Pragmatisch wandeln

 

Das Verständnis von Change ist so vielfältig wie die verwendeten Begriffe. Da ist die Rede von Wandel, von Transformation, Transition, Journey, Restrukturierung, Organisationsentwicklung ... Ein Streit über die Begriffe oder gar die Deutungshoheit ist allerdings müßig. Wie wäre es stattdessen mit einem Event, in dem ein Unternehmen klärt, welche Art von Change für es selbst zweckmäßig ist? Das wäre ein erster effektiver Schritt einer gemeinsamen Bewegung, ganz gleich, wie man diese nennt.

 

Das Vorgehen ist denkbar einfach, es reicht schon, zu Beginn in zwei Spalten aufzuschreiben, was Change für das eigene Unternehmen bedeuten soll – und was nicht. Zum Beispiel: „Wir wollen im Change Selbstorganisation und Co-Kreation. Aber wir wollen uns nicht auf fertige Beraterkonzepte stützen und diese über die hierarchische Kaskade durchsetzen.“

 

Für klassisches Top-down-Management sind solche Situationen oft neu und fühlen sich unbequem an. Denn wird das Ergebnis des Events auch den eigenen Vorstellungen entsprechen? Nicht unbedingt. Aber: Es ist gemeinsam erarbeitet. Und das verspricht häufig eine höhere Akzeptanz, Verbindlichkeit und Wirksamkeit als Changeprojekte, die top-down geplant und in die Umsetzung gebracht werden.

 

An das Event werden sich die Menschen im Unternehmen erinnern, es setzt einen Maßstab für ihre weitere Zusammenarbeit. Das Event ist ein Erlebnis – und ein Erlebnis ist eine Situation.   Vieles spricht dafür, Change genau so in Angriff zu nehmen: über einzelne Situationen.

 

Situationen interessieren Menschen und Unternehmen

 

Situationen sind emotional besetzt, wir erleben sie als peinlich, ärgerlich, harmonisch, schön oder inspirierend. Wenn wir nach unseren Erfahrungen in Unternehmen gefragt werden, dann erzählen wir von Situationen – im Team, mit Kollegen, mit Kunden oder Führungskräften. Das liegt daran, dass wir Menschen Geschichten mögen. „The universe is not made up of atoms; it’s made up of tiny stories”, sagte einmal der US-Schauspieler und Filmregisseur Joseph Gordon-Levitt.

 

Wir können in Situationen vieles richtig machen – oder alles verderben. Situationen und Momente sind viel mehr als nur Verhalten im Alltag, sie sind die Touchpoints, an denen in der Interaktion mit unseren Partnern Zufriedenheit oder Ärger entstehen. Wenn sie gelingen, sind Situationen ungeheuer wertvoll, auch auf einer persönlichen, psychischen Ebene. Denn wir lieben Situationen, in denen wir – zusammen mit Kunden oder im eigenen Team – Sinn und Erfolg erleben. Gleichzeitig sind diese Situationen auch für unsere Unternehmen erfolgskritisch, weil sie von strategischer Bedeutung sind. Es ist dieses gemeinsame Interesse am Gelingen von Situationen, das Menschen und Unternehmen verbindet.

 

Unternehmen leben von den „Tiny Stories“, die täglich in ihnen stattfinden, den Verkaufs- oder Reklamationsgesprächen, den Arbeitstreffen, Workhacks, Statusmeetings, Prozessworkshops, Changeforen, Strategieklausuren. Den Konfliktmomenten und Konfliktinterventionen. Letztlich machen all diese Situationen ein Unternehmen und dessen Kultur aus. Denn Unternehmen passiert nicht in den Kästchen eines Organigramms. Es passiert dazwischen, an der Peripherie zur Umwelt und auch im Ökosystem.

 

Nach Niklas Luhmann besteht Organisation aus Kommunikation und Entscheidungen. Beides wird in Situationen real, ob im analogen Raum, ob online oder am Telefon. Verhaltensmuster, die in Situationen repliziert werden, sind demnach Organisationskultur. Deswegen lohnt es sich, genau dort – bei den Situationen also – anzusetzen, wenn es um Wandel geht. Denn in Situationen und Momenten zwischen den Menschen passiert nicht nur etwas, dort kann sich das Unternehmen auch weiterentwickeln. Dort eröffnet sich der Raum für neues Denken und Handeln, werden Impulse gesetzt, beginnt Bewegung, entstehen neue, effektivere Arbeitsweisen, passiert Wandel. Oder eben nicht, wie das folgende Beispiel zeigt.

 

In einzelnen Situationen entscheidet sich alles

 

Ein Scrum-Projekt. Der Sprint läuft bestens, die Teammitglieder sind engagiert bei der Sache. Dann aber schaltet sich eine Bereichsleiterin ein. Sie will eine andere Aufgabe bis morgen Abend erledigt sehen. Eine wichtige Aufgabe, wichtiger als das Projektziel des agil arbeitenden Teams, so findet jedenfalls die Bereichsleiterin. Der Scrum Master ist machtlos und die Geschäftsführung lässt die Situation zu – wie immer. Die Wahrnehmung der Mitarbeitenden: Das Thema Agilität wird in dem Unternehmen nicht ernst genommen, sondern achtlos verbrannt. Nachdem dies einige Male in ähnlicher Weise geschehen ist, sind einige derart frustriert, dass sie die Organisation verlassen ...

 

Die entscheidende Ausgangsfrage im Kontext eines Changevorhabens lautet: „Welche Situationen müssen funktionieren, wenn uns der Wandel (zum Beispiel in Richtung einer agil arbeitenden Organisation) gelingen soll?“ Hier würden im beschriebenen Beispielfall bei einem „Walkthrough“ durch die Situationen nicht nur die Meetings des agilen Teams (etwa Daily Scrums, Sprint Review, Retrospektiven) als erfolgskritisch identifiziert werden, sondern beispielsweise auch die Kommunikation des Scrum-Verfahrens im Führungskreis, Gespräche zur Ressourcenvereinbarung mit den Führungskräften, der Umgang mit Eingriffen durch Außenstehende und Interventionen bei Konflikten im Team.

 

Die Mitarbeitenden können in der Regel zahlreiche solcher Situationen und Erlebnisse schildern. Und diese Situationen gilt es, möglichst faktisch zu erfassen und hinsichtlich ihrer Dynamik zu hinterfragen:

  • Wie sollten diese Situationen optimal ablaufen? Was genau passiert derzeit da? Was nehmen wir an Problemen wahr? (Etwa: Druck, Stress, Missachtung, mangelnde Wertschätzung, schlechte Kommunikation)
  • Welche Ursachen stecken dahinter? (Willkürliche Prioritätensetzung, zu wenig Austausch, Sparkultur, fehlendes Bekenntnis der Führungskräfte im Unternehmen zum agilen Arbeiten, mangelnde Konfliktkompetenzen)

Die nächsten Fragen wären dann:

  • Welche Veränderungen brauchen wir, damit die Situation in Zukunft gelingen kann?
  • Wie könnten Lösungswege aussehen? (Etwa: explizites Bekenntnis der Führungskräfte zum Scrum-Verfahren, überzeugende Prioritätsentscheidungen, die konsequente Beachtung von definierten Rollen und Verantwortlichkeiten)
  • Und wie könnte der Weg dorthin aussehen? (Dialogrunden, klare Kriterien der Prioritätensetzung, klare Regeln der Konfliktbearbeitung, Schulung der Scrum Master in Konflikthandhabung mit dem Management ...)
  • Was müssen wir ändern, damit die Situation funktioniert?

Strebt ein Unternehmen beispielsweise größere Kundenfreundlichkeit an, will es also einen Wertewandel erreichen, dann gelingt das nur, wenn es den Wert zunächst in ein greifbares Prinzip übersetzt (etwa: Wir helfen den Kunden stets unkompliziert), dann einzelne Aktivitäten ins Visier nimmt, in denen der Wert wirksam werden soll (etwa: die Retournierung einer Ware), die damit in Verbindung stehenden Situationen beschreibt (der Kunde spricht mich als Fachverkäufer an, er hat es sich zu Hause anders überlegt) und schließlich das dem Wert angemessene Verhalten in der Situation definiert (z.B.: Ich prüfe mit dem Kunden die Ware und veranlasse die sofortige Barerstattung, ohne den Kunden umstimmen zu wollen).

 

Dafür, dass das Kundenbedürfnis in dieser Form positiv aufgegriffen werden kann, braucht es gegebenenfalls Unterstützung, auch auf struktureller und prozessualer Ebene. Womöglich muss das Zahlungssystem im Unternehmen entsprechend angepasst werden.

 

Ein weiteres Beispiel: In einem Unternehmen ist der Vertrieb im strategischen Umbruch. Er soll nun nicht mehr einzelne Geräte aus dem Katalog verkaufen, sondern es sollen umfassende Lösungen mit dem Kunden entwickelt werden. Das dreht das Vertriebsdenken um 180 Grad und bringt höhere Anforderungen mit sich. Die Vertriebler müssen jetzt tiefer in den Kundenprozess und das Kundenbedürfnis einsteigen und sich mit den organisatorischen und technischen Möglichkeiten für eine zweckmäßige Lösung auskennen.

 

Auch hier lohnt es sich, konkret zu werden und sich zu fragen: Wie können angesichts dessen künftig Beratungssituationen mit Kunden aussehen? Eine Lösungsmöglichkeit wäre hier: Die entwicklungsversierten Technik-Kollegen und der Projektleiter kommen künftig mit ins Kundengespräch, um Problemstellung, Lösungswege und Auftrag zu klären. Diese gemeinsame Gesprächssituation ist allerdings neu und ungewohnt, sie muss gemeinsam im Zusammenspiel von Vertrieb, Anwendungstechnik und Projektmanagement gestaltet werden.

 

Situationen eignen sich auch hervorragend, um im eigenen Bereich selbstintendiert neue Wege zu gehen. So wie die Führungskraft, der seit Langem die hochgradig standardisierte „Gesprächskultur“ im eigenen Unternehmen auf den Geist geht: Das Regelwerk des Unternehmens hält sie dazu an, mit ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eine definierte Anzahl von Lobgesprächen, Kritikgesprächen, Rückkehrgesprächen und Entwicklungsgesprächen zu führen. Jedes Gespräch lässt sie sich abzeichnen – wieder ein Fleißkärtchen für die folgsame Vorgesetzte! Sie will aber führen, die Menschen mitnehmen, die Zusammenarbeit im Team entwickeln, gute Situationen und Momente für ihre Mitarbeitenden schaffen, um damit deren Motivation zu unterstützen, Probleme zu lösen und gemeinsam Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Die Führungskraft sucht daher den Schulterschluss mit der Personalund Organisationsentwicklung: Gemeinsam will man nun – als Pilotprojekt im Change – Prototypen für neue Teamsituationen in der Abteilung ausprobieren.

 

Die situative Herangehensweise agilisiert den Changeprozess

 

Durch die situative Herangehensweise wird der Changeprozess selbst agilisiert. Dadurch verändert sich die Denk- und Entwicklungsrichtung im Change vom Push- zum Pull-Prinzip. Denn die Veränderung vollzieht sich aus dem Bedarf der jeweiligen Situation heraus. Anders ausgedrückt: Die Situationen bekommen aus der Organisation heraus die Unterstützung, die sie für ihr Gelingen brauchen. Dafür muss sich die Organisation entwickeln, nicht umgekehrt.

Die Arbeit an Situationen hilft auch, Schnelligkeit in Changeverfahren zu bringen. Wir können auf diese Weise sofort loslegen. Wir können schon das nächste Gespräch, den nächsten Workshop, das nächste Meeting, den nächsten Kundenkontakt auswerten und anders gestalten.

 

Jede Situation gibt die Gelegenheit, sofort etwas Neues und vielleicht Besseres auszuprobieren. Dieser Fokus macht einen fundamentalen Unterschied zu aufwendig von oben definierten und durchgeplanten Changeprozeduren. Die Arbeit an Situationen erlaubt – und erfordert – außerdem Mitwirkung und Co-Kreation. Denn erfolgskritische Situationen zu erkennen, sie in den Fokus zu rücken, zu besprechen und zu verändern, klappt nur kooperativ. Auch dies ist ein Prinzip agilen Arbeitens. Zudem ist die situationsbezogene Vorgehensweise durch das agile Merkmal der Iterativität gekennzeichnet: Jede Situation liefert immer wieder aufs Neue Resonanz, liefert neue Informationen. Und jede Situation kann, ausgehend von den gemachten Beobachtungen, immer wieder modifiziert und verändert werden.

 

Der Fokus auf einzelne Situationen macht Change nicht nur agil, sondern auch konkret. Wandel funktioniert hier ohne große Vorbereitung, ohne aufwendige Change Story und den Mega-Rollout über die Organisation hinweg.

 

Einüben von Verantwortungsübernahme, Selbstorganisation und einer Feedbackkultur:

 

Wer sich zunächst in einzelnen, überschaubaren Situationen daran gewöhnt hat, kann später auch in umfassender Weise so agieren – situationsübergreifend. Situationen sind daher auch nicht von ungefähr ein Kern agiler Verfahrensmodelle, denken wir an Stand-up-Meetings oder Retrospektiven: Dasalles sind Situationen, in denen agiles Denkenund Handeln erlebt wird – und in denenwiederum andere Situationen reflektiert werden. Die situative Changearbeit beruht insofern nicht nur darauf, gegebene Situationenzu bearbeiten, sondern auch, spezifische neue Situationen, in denen Bewegung stattfinden kann, zu schaffen.

 

Der Fokus auf die Sitution macht Change konkret

 

Der Fokus auf einzelne Situationen macht Change nicht nur agil, sondern auch konkret. Wandel funktioniert hier ohne große Vorbereitung, ohne aufwendige Change Story und den Mega-Rollout über die Organisation hinweg, der typischerweise häufig Unverständnis und Widerstand erzeugt, weil er bei den Mitarbeitenden Fragezeichen provoziert: „Wieso das Ganze jetzt schon wieder?“ Die Frage „Was braucht es heute und in Zukunft, damit uns diese spezielle Situation gelingt?“ ist für die Beteiligten dagegen meist leicht nachvollziehbar. Und die Antwort liegt im Interesse aller – eben weil sich nicht nur die Organisation gelingende, erfolgreiche Situationen wünscht, sondern auch die Mitarbeitenden.

 

Der Fokus auf Situationen kann Organisationen zu sich selbst zurückbringen. Wenn wir Wandel von Situationen aus denken, dann entzaubern wir damit einen Teil der Beratungsindustrie mit ihren umfangreich aufgesetzten Strategie-, Struktur- und Changekonzepten. Wir entzaubern auch Macht und Machbarkeitsillusionen, Konfliktvermeidungs- oder Harmonie-Illusionen. Denn wenn wir an Situationen arbeiten und das Ziel haben, diese effektiv zu gestalten, dann müssen wir beharrlich sein. Wir dürfen nichts beiseiteschieben. Wir müssen uns Widersprüchen und Problemen stellen, müssen nachfragen und offen und ehrlich über das real Machbare reden. Sich mit scheinbaren Veränderungen an der Oberfläche der Organisation zufriedenzugeben, funktioniert im situativen Ansatz nicht. Zumindest werden wir dies bei nächster Gelegenheit zu spüren bekommen – in der Situation.

 

Change mit Fokus auf einzelne Situationen in Angriff zu nehmen, entzaubert auch unser klassisches Führungsverständnis. Wenn wir nämlich ernsthaft vom Ziel aus denken, dass eine Situation gelingen soll, dann stellt sich unweigerlich die Frage: Welche Art der Führung, welche Verteilung von Führung braucht es, damit die Situation ein Erfolg wird? Und auch: Welche Form der Zusammenarbeit ist im gegebenen Kontext am besten geeignet, damit wir den Zweck, den wir erreichen wollen, erreichen können?

 

Ein Change Backlog hilft bei der Arbeit an Situationen

 

Um auf den Radarschirm zu bekommen, welche Situationen im Kontext eines Changevorhabens erfolgskritisch sind, lassen sich agile Praktiken nutzen, etwa die Arbeit mit Schwerpunkt einem Change Backlog. Das heißt: Wir analysieren, welche unternehmerischen Aktivitäten erfolgskritisch für uns sind, was wir also beherrschen müssen, vom Kundenkontakt über Lieferketten bis hin zur Innovation in Kernthemen. Und dann listen wir die erfolgskritischen Situationen, die bei diesen Aktivitäten eine Rolle spielen, auf. Etwa: Strategiemeeting, Kundengespräche, Konfliktgespräche, Arbeit im Fachteam, Feedbackgespräche. Schließlich bringen wir das Ganze in ein Ranking.

 

Je nach Thema können wir schließlich ein- bis viertägige Timeboxes (begrenzte fixierte Zeiträume, in denen die Aufgabe zu bewältigen ist) ansetzen, um Lösungsideen zur Gestaltung und Verbesserung der jeweiligen Situationen zu entwickeln. Timeboxes deshalb, weil Zeit nicht dehnbar ist und agile Verfahrensweisen das ernst nehmen. Sie lenken unseren Fokus darauf, welche Situationen wir ernsthaft in einem verfügbaren Zeitgerüst bearbeiten wollen und können. Nur so wird es möglich, Themen konsequent umzusetzen, nachzuverfolgen und, wenn nötig, erneut zu überdenken. Nur so erleben wir schnell Erfolg und Wirksamkeit – und

damit Zufriedenheit im Change.

 

Kehren wir noch einmal zu dem Unternehmen zurück, das seine agile Projektzusammenarbeit stärken will: Auf Platz eins der Rangfolge im Change Backlog könnte hier die unternehmerische Aktivität Ressourceneinsatz stehen – und dementsprechend die immer wieder auftretende kritische Situation „Fachabteilung und Projektteam setzen sich über den Einsatz von Mitarbeitern auseinander“. Hier könnte der nächste praktische Schritt darin bestehen, dass sich ein Team aus Betroffenen (bestehend etwa aus den Projektleitern und Projektleiterinnen, den

Projektmitarbeitenden und Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern) zusammensetzt und in einem ein- oder zweitägigen Workshop eine gangbare Lösung erarbeitet, die dann in einem Zeitrahmen von drei Monaten ausprobiert wird.

 

Der situative Ansatz birgt auch Risiken

 

Der situative Ansatz hat neben vielen Vorteilen allerdings auch Grenzen und birgt Risiken. Er hat keinen abstrakt-konzeptionellen Unterbau, sondern basiert auf praktischem Tun. Er benennt keine strategischen oder fachlichen Antworten oder Ergebnisse, sondern liefert „nur“ den Weg dorthin. Veränderung über Situationen anzugehen, heißt also, sich stark auf das „Wie“ der Veränderung zu konzentrieren. Das bedeutet aber nicht, dass die inhaltliche Fokussierung auf das „Was“ dadurch obsolet wird. Der Rahmen für die Changearbeit entlang von Situationen

ergibt sich erst aus dem Selbstverständnis des Unternehmens, seinem Purpose, seiner Strategie, dem Business-Modell. Das „Wofür“ muss klar sein, bevor das „Wie“ angegangen wird. Und geklärt wird es am besten in einer Dialogveranstaltung der Mitarbeitenden gemeinsam mit der Unternehmensleitung – wiederum eine Schlüsselsituation.

 

Auch ist es wichtig, unternehmerische Aktivitäten und die damit in Verbindung stehenden Situationen im Kontext zu sehen und zu verstehen. Das bedeutet: Bei jeder einzelnen zu bearbeitenden Situation muss man im Blick behalten, welche strategisch, taktisch und operativ relevanten Situationen und Prozesse vorher, parallel und hinterher ablaufen. Beispiel: Will ein Unternehmen seine Produktinnovation auf ein neues agiles Niveau heben und etwa Innovation Days, Product Hacks und Design Thinking Events etablieren, dann tut es gut daran, auch unternehmerische Aktivitäten und Situationen auf dem Schirm zu haben, die zwar keine

Innovationssituationen im engeren Sinn sind, aber einen Bezug zur Produktinnovation haben.

 

Zum Beispiel Situationen rund um „Kunden“, also etwa Kundenzirkel, Trendgespräche und Reklamationssituationen. Auch hier gibt es Informationen, Ideen, Kompetenzen und Interessen rund um das Thema Produktinnovation, die man (am besten im Rahmen eines offenen unternehmensweiten Forums, gegebenenfalls aber auch über Interviews) erfassen sollte. Ergebnis ist ein für alle sichtbares, organisationsübergreifendes Mapping der Aktivität Produktinnovation. Dieses Mapping sollte jedoch nicht als Beschäftigungsmaßnahme für eine zentrale Verwaltungsstelle missverstanden werden. Eher geht es darum, eine App bereitzustellen, in die die Anwender ihre Einträge über Aktivitäten, Touchpoints und Situationen selbst vornehmen, in der sie kollegiales Feedback für die Nützlichkeit ihrer Einträge erhalten, in der Abstimmbedarfe signalisiert und Kommunikation Face to Face, per Chat oder Telefon angebahnt werden kann. Das lässt sich schnell implementieren, ausprobieren und schrittweise ausbauen.

 

An einzelnen Situationen isoliert zu arbeiten, kann dagegen beim situativen Change zu unerwarteten Wechselwirkungen und Konflikten führen. Der gemeinsame Workshop zur Personalplanung macht keinen Sinn, bevor nicht im Vertriebsmeeting Markt und Umsatzerwartungen geklärt worden sind. Die Arbeit mit Situationen kann allerdings auch nur zu punktuellen Veränderungen führen, wenn der Ansatz nicht im Sinne eines ganzheitlichen Change verstanden und von der Unternehmensleitung entsprechend unterstützt wird.

 

Mitunter hat der Ansatz auch ein Attraktivitätsproblem. Auf manche wirkt er zunächst weniger spannend oder innovativ als beispielsweise der Rollout eines „anspruchsvollen“ neuen Strategiekonzepts. Gleichzeitig kann er in der Umsetzung anstrengend sein, weil er die konsequente Realisierung neuer Verhaltensweisen im Geschäftsalltag erfordert. Dennoch: Die größte Herausforderung für viele Unternehmen besteht darin, in die Umsetzung, ins Tun zu kommen. Und das fällt mit dem Fokus auf Situationen weitaus leichter als auf der Grundlage abstrakter Organisationskonzepte. Der Change wird damit sofort real.

 

 

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