Angst als Kompetenz

 

Fearless Organization“ ist der Titel einer Schulung, die ein Großkonzern seinen Führungskräften weltweit anbietet. Kurz darauf setzt dasselbe Unternehmen wieder verstärkt auf „Command and Control“, verkündet im Quartalsrhythmus neue Umbrüche und Personalabbaupläne, und als Konsequenz verfallen viele Mitarbeitende in Angststarre.

 

Auf gesellschaftlicher Ebene sieht es ähnlich aus: Angesichts der jetzt schon hohen Corona-Zahlen haben viele umso mehr Angst vor einer besonders heftigen Welle im Herbst: Die einen fürchten um ihre Gesundheit und die ihrer Lieben, andere um ihre berufliche Existenz, wieder andere um ihre Grundrechte und die Meinungsfreiheit. Von Angstmache ist die Rede, aber auch davon, dass die Bürger und Bürgerinnen sich nicht genug Sorgen machen. Und dann gibt es da noch das Damoklesschwert Finanz- und Wirtschaftskrise, die Blase, die nun mehr denn je zu platzen droht – nicht zuletzt aufgrund des Krieges in der Ukraine, der uns mit seinen furchtbaren Bildern täglich aufs Neue ebenfalls das Fürchten lehrt.

 

Angst ist präsenter denn je. Und mehr denn je wird sie verteufelt, gemieden, verdrängt. Gerade in Unternehmen und Organisationen, in denen emotionale Intelligenz inzwischen offiziell zum Skillset einer jeden Führungskraft gehört, wird paradoxerweise das Gefühl der Angst aus diesem meist ausgeklammert. Sie wird mit Schwäche gleichgesetzt und gilt als schlechter Ratgeber. Angst ist irrational, wir brauchen sie heutzutage nicht mehr, schließlich leben wir ja

nicht mehr in der Steppe, wo wir uns ständig auf Bäume flüchten mussten, so der Tenor. Aber irgendwie scheint die Angst auch – und immer noch – für etwas gut zu sein. Warum sonst würde sie eine solche Faszination auslösen? Warum sonst gibt es so viele Thriller und Horrorfilme, Geister und Achterbahnen, Extremsportarten wie Bungee Jumping, Free Climbing und Cliff Diving? Warum sonst gibt es unzählige Geschichten von der ungeheuren Kraft, die in diesem Gefühl schlummert? Von Menschen, die in brenzligen Situationen von Angst beflügelt zu übermenschlichen Leistungen fähig sind?

 

Dieser scheinbare Widerspruch war mir lange ein Rätsel. Erst als ich vor rund 15 Jahren mit Gefühlsarbeit begonnen habe, fiel mir langsam eine Schuppe nach der anderen von den Augen, und es eröffnete sich mir sukzessive ein neuer Blick auf das Gefühl der Angst. Dieser konterkariert einige verbreitete Vorstellungen über Angst, die meiner Meinung nach in den Bereich der Mythen gehören – und für die es in unserer (Unternehmens-)Welt dringend alternativer Narrative bedarf.

 

Angst bedeutet automatisch Gefahr.

 

Wenn Menschen Angst hatten, ging es jahrtausendelang vor allem ums Überleben. Tauchte der vielbemühte Säbelzahntiger auf, versetzte die Angst den ganzen Körper in Alarmbereitschaft, um blitzschnell angreifen oder die Flucht antreten zu können. Nun sind die Säbelzahntiger bekanntermaßen ausgestorben und auch sonst sind wir – zumindest in unserem Kulturkreis – nur noch selten mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert. Trotzdem laufen in uns dieselben biochemischen Reaktionen ab, wie ehemals bei realer Lebensgefahr – und wenn es „nur“ die Vorstellung ist, dass eine Präsentation schiefläuft. Warum ist der biochemische Angstprozess nicht mit den Säbelzahntigern ausgestorben? Warum schalten wir immer noch so oft in den Angstmodus – auch wenn gar keine echte Gefahr droht?

 

Neues Narrativ: Angst bedeutet Neuland.

 

Angst ist eben nicht nur ein Zeichen für Gefahr, sondern auch ein Signal für Neuland, für das Unbekannte. Die akuten Lebensgefahren haben wir weitgehend ausgemerzt, das Unbekannte können wir nicht eliminieren. Im Gegenteil, die Welt ist VUKA, wir müssen uns damit anfreunden, dass sie unsicher und nicht vorhersagbar ist. Was wäre nun, wenn uns die Angst nicht nur in Gefahrensituationen hilft, sondern auch beim Umgang mit dem Unbekannten? Indem sie unsere Sinne schärft und uns dabei unterstützt, mit vorsichtigen Schritten Neuland zu betreten? Dafür müssen wir sie allerdings erst einmal zulassen.

 

Männer haben keine Angst.

 

Viele Führungskräfte (vor allem Männer) winken in meinen Coachings oft ab, wenn es um das Thema „Angst“ geht. „Angst? Nein, ich kenne keine Angst“ ist die häufigste Reaktion auf eine Frage nach diesem Gefühl. Wenn wir dann tiefer einsteigen, kommt meist die Erkenntnis, dass da doch eine ganze Menge verdrängt worden ist.

 

Eine Hauptursache für den entsprechenden Verdrängungsreflex ist unsere Sozialisierung. Viele von uns haben von klein auf gelernt, dass es nicht okay ist, Angst zu fühlen. Wer will schon ein Angsthase oder Schisser sein? Auch das wohlgemeinte „Du brauchst doch keine Angst haben“, das wir so oft von Mama oder Papa gehört haben, hat nicht gerade zu einem positiven Image von Angst beigetragen.

 

Neues Narrativ: Taubheitsschwelle blockiert Angstkraft.

 

Deshalb haben die meisten von uns – nicht nur, aber eben doch insbesondere die Männer – ihre „Taubheitsschwelle“ beim Gefühl Angst ziemlich hochgeschraubt, sodass wir unsere eigene Angst oft gar nicht mehr spüren. Viel genutzte „Betäubungsmethoden“ sind zu viel Arbeit, Fernsehen, Alkohol, Rauchen, Drogen, Shopping, Social Media, Stammtisch, Schokolade etc. Das nennt sich dann „Sich ein dickes Fell zulegen“. Das Problem ist: Gefühle verschwinden nicht einfach, nur weil wir sie nicht mehr spüren. Sie schwelen im Unterbewusstsein und verschaffen sich irgendwann, meist in körperlichen und psychischen Symptomen, Ausdruck: So kann sich unterdrückte Angst in einem nervösen Darm zeigen, in Schlaflosigkeit, Rückenbeschwerden, Panikattacken oder Kontrollwahn.

 

Angst zu betäuben, ist genauso sinnvoll, wie die rot leuchtende Ölwarnlampe im Auto abzukleben. Irgendwann hat man einen Motorschaden. Hinzu kommt: Mit besagten Anti-Angst-Strategien betäuben wir zumeist nicht nur unsere Angst, sondern auch generell unser Empfindungserleben und versperren uns damit selbst den Zugriff auf eine unserer wichtigsten Ressourcen: die Kraft unserer Gefühle.

 

Angst ist eine Krankheit.

 

Wer den Begriff „Angst“ in eine Suchmaschine eingibt, wird erschlagen von der Fülle an Ratgebern, wie man selbige am besten überwinden kann. „Ängste und Panikattacken loswerden“, „Ängste effektiv besiegen“, „Angstfrei leben“, „Angst – danke und tschüss!“ – die Liste ist endlos. In den meisten Büchern geht es um die pathologische Angst, also die Angst, die sich nach oft jahrzehntelangem Verdrängen oder traumatischen Erfahrungen in einer krankhaften Form ausdrückt. Diese Ängste sind extreme Formen von Emotionen.

 

Neues Narrativ: Gefühle und Emotionen sind nicht dasselbe.

 

Und damit sind wir bei der wohl wichtigsten Unterscheidung in diesem Kontext: der zwischen Gefühlen und Emotionen. Während Gefühle sich auf eine Situation im Hier und Jetzt beziehen und maximal drei Minuten dauern, sind Emotionen unterdrückte und angestaute Gefühle aus der Vergangenheit, meist aus Kindertagen, die noch in unserem System stecken. Sie gleichen dann einem Computerprogramm, das später durch ähnliche Situationen immer wieder angestoßen wird und automatisch abläuft. Also zum Beispiel das Erstarren vor einem cholerischen Chef, der an den cholerischen Vater erinnert. Auch wenn diese Emotionen in den wenigsten Fällen pathologisch werden, nehmen sie uns die Möglichkeit, in der aktuellen Situation angemessen zu handeln – wir reagieren buchstäblich emotional.

 

Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Gefühlen und Emotionen: Das Gefühl können wir im Hier und Jetzt nutzen. Die Emotion nicht. Die Krux ist: Solange wir nicht an unserem alten Emotions-Ballast gearbeitet haben, sind die meisten unserer „Gefühle“ eigentlich Emotionen. Das erklärt, warum viele Gefühle, besonders die Angst, einen solch schlechten Ruf haben. Die meisten von uns kennen Angst als Gefühl gar nicht und damit auch nicht dessen (positive) Kraft.

 

Aber was tun? Die gute Nachricht ist: Emotionen können gelöst werden, sodass die gestaute Energie entladen wird und unsere Gefühle wieder fließen können. Je nach „Schwere“ gelingt dies im Rahmen von Coachings, Emotionalprozessen, Somatic Experiencing und anderen Formen der „Emotionalhygiene“. Auf diesen Wegen können wir sukzessive unsere alten Programme, unsere emotionalen Triggerpunkte, deinstallieren und werden auch immun gegen bewusste oder unbewusste (emotionale) Manipulationsversuche von außen.

 

Wir brauchen angstfreie Organisationen.

 

Inzwischen haben bereits einige Unternehmen erkannt, dass es mit der Angstkultur so wie bisher nicht weitergehen kann. DieUS-Führungs- und Organisationsforscherin Amy Edmondson fordert in ihrem Buch mit dem gleichnamigen Titel sogar die „Fearless Organization“. Was auf den ersten Blick Sinn macht. Oberflächlich betrachtet richtet Angst in Organisationen sehr viel Schaden an. Aber ist das wirklich so? Oder entsteht der Schaden nicht vielmehr durch den unbewussten und unverantwortlichen Umgang mit der Angst?

 

Ein Blick ins Topmanagement gibt Aufschluss. Die Angst, weitreichende Fehlentscheidungen zu treffen, ist dort zweifelsohne vorhanden. Weil Angsthaben aber nicht zum Bild einer Chefin oder eines Chefs passt, haben die Mitglieder der obersten Führungsebenen ihre Angst-Taubheitsschwellen zumeist sehr hoch gelegt und diverse Strategien entwickelt, das Gefühl zu verdrängen respektive zu ersetzen. Eine typische ist die Zuwendung zur – vor allem auf der Führungsebene tatsächlich weit mehr akzeptierten – Wut. Bedeutet: Sie schüren mit Drohungen und Kontrolle bei den Mitarbeitenden emotionale Ängste (weil sie sich selbst ihre Angst nicht eingestehen wollen). Derartig angetriggert fallen die Mitarbeitenden dann in ihre jeweiligen Reaktionsmuster – die einen buhlen um die Anerkennung von „Mama“ oder „Papa“, die anderen gehen in die Starre. Da Verhalten – insbesondere das an der Spitze – in sozialen Systemen kopiert wird, sind Organisationskulturen die Folge, in denen eigene Fehler vertuscht, kritische Feedbacks mit Versagen gleichgesetzt und vor allem Entscheidungen von Führungskräften nicht hinterfragt werden, selbst wenn sie noch so fragwürdig sind.

 

Welch fatale Folgen das haben kann, verdeutlicht eine Analyse aus der Luftfahrt, die in den 1970er-/1980er-Jahren durchgeführt wurde. Der zufolge stürzten Flugzeuge damals weitaus häufiger ab, wenn der Kapitän am Steuer saß, als wenn der Co-Pilot flog. Der Grund: Die Hierarchie im Cockpit war so steil, dass zwar der Pilot den Co-Piloten auf Fehler (rechtzeitig) aufmerksam machte, wenn dieser flog, aber nicht umgekehrt – und zwar aus Angst. Das wäre ja nun eigentlich ein Argument für die Angstfreiheit, oder? Nicht ganz. Es war die emotionale Angst, die die Co-Piloten zurückhielt: „Ich will nicht bestraft werden, weil ich eine Autorität in Frage stelle.“ Das Gefühl der Angst war es dagegen, dass sie überhaupt erst merken ließ, dass etwas schiefläuft.

 

Neues Narrativ: Potenzialentfaltung durch bewussten und verantwortlichen Umgang mit Angst.

 

In der Luftfahrt führte ein neues Rollenverständnis bei den Piloten dazu, dass weniger alte Emotionen den Prozess blockieren und gleichzeitig das Gefühl der Angst mit seiner Wachheit und Präzision eingeladen wird: Im Cockpit gibt es heute einen Pilot Flying und einen Pilot Monitoring, also eine Person, die auf Abweichungen der Flugparameter achtet, die der Pilot oder die Pilotin nicht selbst erkennt.

 

Auch in Unternehmen ist es Zeit für eine Generalüberholung von Führungsrolle und -werkzeugen. Jenseits der autokratischen und patriarchalen Methoden aus dem vergangenen Jahrhundert wie „Teile und herrsche“ oder „Command and control“. Jenseits der Heldenmentalität, der Anforderung, fachlich der oder die Beste zu sein, alles zu wissen und keine Schwäche zu zeigen. Dort, wo diese gelingt – oder auch schon gelungen ist –, können sich

Führungskräfte authentisch und transparent mit ihren Gefühlen zeigen, auch mit ihrer Angst, wenn sie gerade keine brillante Lösung für ein Problem haben. Das gibt den Mitarbeitenden die Möglichkeit, ihr volles Potenzial einzubringen, einschließlich der Kraft ihrer Gefühle.

 

Wer jetzt denkt, „Na ja, das ist ja ganz nett, aber bei uns geht das nicht“, dem hilft vielleicht folgendes Beispiel: Die IT-Abteilung eines Großkonzerns ging durch einen tiefgreifenden Veränderungsprozess. Als ich anfing, mit den Führungskräften zu arbeiten, hatten die meisten mit dem Thema Gefühle erst einmal Schwierigkeiten. Nach einigen Coachings und Workshops stellten sich die Führungskräfte in einer Abteilungsklausur dann jedoch vor ihre Kollegen und Kolleginnen und sprachen ganz offen über ihre Gefühle in Bezug auf den Change – auch über ihre dazugehörigen Ängste. Diese Offenheit bewegte die Mitarbeitenden zutiefst, und sie nahmen sie als Einladung, sich selbst zu öffnen, Verantwortung für ihre Gefühle zu übernehmen und sie als Ressource zu nutzen, eigene Ideen für den Wandlungsprozess zu entwickeln.

 

Mehr Kontrolle = weniger Angst.

 

Ich erlebe immer wieder, dass Unternehmen gerade in Krisenzeiten in das alte Muster von Überregulierung rutschen. Auf schlechte Erfahrungen reagieren sie reflexhaft mit noch mehr Regeln, Richtlinien und Verfahrensanweisungen, Monats-, Quartals-, Halbjahres- und Jahresplanung, Arbeitssicherheitsbestimmungen und detaillierten Prozessbeschreibungen für jeden Handgriff, bis hin zur Betriebsanleitung für die Mitarbeiterdusche (kein Scherz). Das Management versucht, alle Eventualitäten in eine Wenn-dann-Logik zu packen und Handlungsanweisungen zu geben bzw. jedes Detail im Voraus zu planen. In unserer komplexen Welt ein unmögliches Unterfangen.

 

Überregulierung ist der verzweifelte Versuch, Angst zu vermeiden: die Angst des Managements, dass etwas schieflaufen könnte oder das System ausgenutzt wird. Sie verlangsamt die Organisation aber nicht nur enorm, sondern ist auch absolut kontraproduktiv. Denn Menschen in überregulierten Organisationsumfeldern hören nicht nur auf, selbstständig zu denken, sie nutzen auch ihre Angstkraft nicht mehr, um wach zu bleiben, genau und sorgfältig zu arbeiten und um neue, vielleicht bessere Lösungen zu finden. Stattdessen werden durch die Sanktionierung von Regelverstößen emotionale Angstknöpfe gedrückt, was zu Lähmung und Vertuschung von Fehlern führt. So kann übermäßige Kontrolle sogar zu mehr (emotionaler) Angst führen.

 

Neues Narrativ: Angst als Antwort auf Komplexität.

 

Weniger zentrale Steuerung ermöglicht mehr Flexibilität, um auf Unvorhergesehenes reagieren zu können. So, wie der Kreisverkehr für wechselndes Verkehrsaufkommen meist besser geeignet ist als die Ampel, so sind agile Prinzipien für ein komplexes Umfeld hilfreicher als starre Prozessabläufe. Sie erfordern aber auch, dass die Handelnden die Angst bewusst und verantwortlich nutzen – wach sind für Veränderungen und mit dem gehen, was kommt, anstatt auf Regeln zu beharren. Sonst kommt es zur Kollision.

 

Gerade in Organisationen mit flexibleren Strukturen und dezentralisierter Verantwortung bedarf es nicht nur der Gehirne, sondern auch der geschärften Sinne aller, um wach zu sein für die Konsequenzen des eigenen Handelns, für die Kundenbedürfnisse und dafür, ob vom Unternehmenssinn abgewichen wird. Frederic Laloux beschreibt in seinem Buch „Reinventing Organizations“, wie ein Produktionsmitarbeiter des Automobilzulieferers FAVI ein Qualitätsproblem an einem Teil bemerkte, an dem er arbeitete. Er hielt nicht nur sofort die Maschine an und prüfte alle unfertigen und fertigen Teile. Er begab sich auch umgehend zusammen mit dem Kundenmanager auf die achtstündige Fahrt zur Volkswagenfabrik, um dort sämtliche Teile zu prüfen. Hätte der Mitarbeiter (emotionale) Angst vor Bestrafung gehabt, hätte er den Fehler wahrscheinlich verheimlicht. Da der Umgang bei FAVI ein anderer ist, hat der Mitarbeiter seine Angst (vor den Folgen des Qualitätsproblems) wirksam genutzt, um größeren Schaden beim Kunden abzuwenden.

 

Angst ist also eine wichtige Ressource im Umgang mit Komplexität, die uns Menschen übrigens auch von Robotern unterscheidet: Menschen können im Gegensatz zu Robotern mit Überraschungen wirksam umgehen – aber nur, wenn wir die Überraschungen (und damit auch die damit verbundene Angst) zulassen.

 

Angst blockiert Kreativität.

 

Diese Erfahrung kennen viele von uns: Wenn wir unter Druck stehen, Angst haben, anzuecken, oder gar um unseren Job fürchten, fällt es uns schwer, der Kreativität freien Lauf zu lassen. Andererseits ist für Organisationen, die Angst ausklammern und auf Sicherheit getrimmt sind, jede Innovation ein Risiko – wer weiß schon, ob sie Erfolg haben wird und sich die Investition lohnt. Einer meiner ehemaligen Arbeitgeber hatte für einige Zeit das Motto „Safety First“ ausgerufen. Was bedeutete, dass nur Projekte finanziert wurden, die 100-prozentige Aussicht auf Erfolg hatten. Ein Killer für jegliche Innovation. Das geschah aus – wer bis hierhin aufmerksam gelesen hat, ahnt es schon – emotionaler Angst und eben nicht aus dem Gefühl der Angst heraus.

 

Neues Narrativ: Kreativität braucht Angst.

 

Not macht erfinderisch. Das wissen wir nicht erst seit der Corona-Zeit, in der viele Innovationen und neue Möglichkeiten zur Weiterführung der täglichen Arbeit entstanden sind. Angst ist aber nicht nur ein Motor, um uns aus einer Notlage herauszubewegen. Sie ist auch die eigentliche Kraft, die wir brauchen, um kreativ zu sein und Innovationen zu erschaffen. Denn solange wir aus der Sicherheit unseres Wissens heraus etwas entwickeln, kann es per Definition nicht neu sein, sondern bestenfalls eine Modifikation von Bekanntem. Erst wenn wir das Gefühl der Angst nutzen, um uns (mit vorsichtigen Schritten) in das Territorium des Nicht-Wissens zu bewegen, können wir bislang unbekannte Wege und Lösungen finden und etwas wirklich Neues erschaffen.

 

Angst verhindert Veränderung.

 

Es gibt zweifellos viele Menschen, die angesichts größerer Umbrüche in eine Schockstarre fallen und versuchen, Veränderungen mit allen Mitteln auszuweichen. Dass Angst in Change-Prozessen oft als einer der Hauptverhinderer gesehen wird, ist mithin nicht verwunderlich. Doch auch hier gilt es wieder zu differenzieren: Es ist nicht das Gefühl der Angst, das Menschen zu „Verhinderungsverhalten“ antreibt, sondern wiederum eine Emotion, genauer gesagt, die Angst vor der Angst. Noch genauer: Die (emotionale) Angst vor dem Gefühl der Angst, das wir in neuen Situationen empfinden. Nur ist dieses Gefühl eigentlich überhaupt nicht beängstigend, sondern völlig natürlich.

 

Neues Narrativ: Angst als Transformationskatalysator.

 

Angst steht am Beginn einer jeden Change Kurve, die Vorahnung, dass etwas Neues, Unbekanntes kommt. Mein Geschäftspartner sagt immer: „Wenn ich in Transformationsprozessen keine Angst im Kundensystem wahrnehme, dann wird mir angst.“ Denn das wäre ein Hinweis darauf, dass die anstehende Veränderung nicht groß genug ist, mehr Schönheitskorrektur als wirkliche Transformation. Das Gefühl der Angst ist, wie gesagt, ein Signal dafür, dass der Schritt hinausgeht aus der Komfortzone, und wirklich Neuland betreten wird (und im Wandel so gesehen immer ein gutes Zeichen) – und darüber hinaus ist sie eben auch eine wertvolle Ressource. Denn wir brauchen die Angst in Veränderungsprozessen, um wach zu sein, um unnötige Fehler zu vermeiden und intelligente Risiken einzugehen, um die Schwelle des Nicht-Wissens zu überschreiten und zu spüren, was an Neuem entstehen will.

 

 

Photo by Benjamin Davies on Unsplash

 

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