Der Fahrplan für agile Führung

 

Auch agile Teams brauchen Führung. Wie genau diese Führung aussieht, ist jedoch den Beteiligten oft nicht klar – schon gar nicht, wenn sich mehrere Personen die Führungsaufgaben teilen. Das Leadership Canvas hilft dabei, die wesentlichen Führungskompetenzen und -aufgaben zu sortieren und ihnen einen strukturierten Rahmen zu geben.

 

Wenn Teams agiler arbeiten wollen, ist das toll. Oft sorgt die neue Agilität allerdings auch für Verwirrung: Führt denn noch jemand Jahresgespräche und wenn ja, wer? Wie werden Mitarbeiter bewertet, honoriert oder befördert? Wer entscheidet eigentlich worüber? Wie viel Selbstorganisation wollen wir eigentlich? Wer übernimmt die Verantwortung wofür? Und welches Führungsverständnis steckt hinter dem Ganzen?

 

Dabei sind die gegenseitigen Vorbehalte häufig groß. So ist im Prozess der Agilisierung vonseiten der Führungskräfte immer wieder zu hören: „Viele Mitarbeitende wollen doch gar keine Verantwortung übernehmen, und dann bleibt es letztlich wieder an mir hängen.“ Die Teams wiederum sagen: „Letztlich will die Führung doch Verantwortung gar nicht abgeben, denn das würde sie ja entmachten.“

 

Zu viele Fragezeichen können demotivieren – und so den Prozess der Agilisierung komplett ausbremsen. Deshalb sollten die Beteiligten lieber Antworten suchen. Denn Führung muss es auch in agilen Teams geben – sogar eher mehr als weniger.

 

Für Orientierung kann hier das Tool Leadership Canvas sorgen, mit dem sich alle wichtigen Komponenten agiler Führung auf einen Blick darstellen lassen. Führungskräfte können mit dem Tool ihre Führungskultur (Werte, Prinzipien, Aufgaben, Entscheidungen etc.) ebenso wie die notwendigen Strukturen (Teamstruktur, Frameworks, Skalierungen etc.) gestalten und visualisieren und so Übersicht gewinnen.

 

Wie beim Business Model Canvas (BMC), das von Alexander Osterwalder für die Entwicklung von Geschäftsmodellen entwickelt wurde und das hier als Vorbild dient, wird alles auf einem Flipchart, Plakat, Online-Kooperationsboard o.Ä. festgehalten: die Führungskomponenten sowie all das, was für ihre konkrete Umsetzung zu tun ist. Jeder Bereich des Canvas wird gemeinsam mit dem Führungsteam entwickelt und ausformuliert. So werden das gemeinsame Verständnis und die Ausrichtung auf den Punkt gebracht und Entscheidungen, Aufgaben, Kompetenzen und Ziele passgenau definiert und festgehalten.

 

Mit dem Leadership Canvas lässt sich gerade in Teams, die sich im Übergang zu einem agileren Arbeiten befinden, Führung neu gestalten und das neue Führungsverständnis transparent machen. Denn Leadership im agilen Sinne steht mehr denn je für Rahmengestaltung: Als Mentor, Moderatorin und Inkubator ermöglichen agile Führungskräfte ihren Teams die Arbeitsbedingungen, die sie brauchen, um innovativ und adaptiv handeln zu können. Das Tool hilft zudem, die verschiedenen Führungsrollen zu sortieren, die es in agilen Teams gibt: Zum einen sind dies die lateralen Führungsrollen, also Personen, die funktionale Führung auf Augenhöhe übernehmen, wie beispielsweise der Product Owner, der das „Was tun wir“ im Blick hat, und der Agile Coach, der das „Wie tun wir es“ im Fokus hat. Zum anderen gibt es die Führung, die über die Frameworks und Strukturen in den Teams legitimiert ist, und die beispielsweise eine Teamleiterin übernimmt.

 

Weiterhin wichtig ist die Unternehmensführung, die je nach Größe der Organisation für Ausrichtung und Orientierung sorgt und die Klammer um alles bildet. Diese Führungsrollenvielfalt gilt sowohl für rein agil arbeitende Organisationen wie auch für hybride, bei denen klassische Arbeitsweisen und agile Bereiche wie zwei Betriebssysteme vernetzt werden.

 

Genutzt werden kann das Leadership Canvas von einer einzelnen Führungsperson oder von einem Führungsteam. Letzteres ist in agilen Kontexten häufiger der Fall und besonders sinnvoll. Wie jedes Canvas besteht auch das Leadership Canvas aus mehreren Feldern, die nacheinander bearbeitet werden. Empfehlenswert ist es, sich als Führungsteam einen Tag Zeit zu nehmen und das Canvas gemeinsam zu erarbeiten.

 

Gestartet wird mit dem Feld „Unser Auftrag“ – also der Frage nach dem Wozu. Weiter geht es mit der Vision und dem Ausblick, wohin sich die Führung in den nächsten Jahren entwickeln soll, und der Frage nach den Werten und Prinzipien, an denen das Team sein Handeln ausrichtet. Wird das Canvas von einem Führungsteam bearbeitet, werden alle Felder – also alle Komponenten der Führung – gemeinsam gestaltet. Dies sollte nach Möglichkeit von einem Moderator oder einer Moderatorin begleitet werden. Denn gerade bei den zentralen Fragestellungen ist es nicht immer einfach, zu einem Konsens zu kommen. Etwa bei der Formulierung des Beitrags in der Canvas-Mitte: Hier ist es sinnvoll, den Austausch im „Think, Pair, Share“-Format zu moderieren: Erst denkt jeder und jede für sich selbst über die Leitfragen nach und formuliert für sich die wichtigsten Punkte. Dann wird dies in Zweier-Gruppen wiederholt. Anschließend werden die Fragen zu viert – also von zwei Zweier-Gruppen, die jeweils ihre Ergebnisse teilen und dann diskutieren – beantwortet. Schließlich werden die relevantesten Punkte gemeinsam von der ganzen Gruppe in bis zu maximal drei griffigen Sätzen formuliert.

 

Zu jedem Feld gibt es mehrere Leitfragen, die Denkanstöße liefern und so das Ausfüllen erleichtern sollen. Die Antworten sollten möglichst kurz und fokussiert formuliert werden, um die Übersichtlichkeit des Visualisierungstools zu gewährleisten. Worum es in den einzelnen Feldern genau geht, wird im Folgenden ausführlicher beschrieben – und zwar in der Reihenfolge, in der die Felder bearbeitet werden sollten.

 

1. Unser Auftrag

 

Das gemeinsame Verständnis von neuer Führung ist entscheidend, denn die Führungskräfte agieren sowohl als Vorbilder wie auch als Botschafterinnen einer agileren Kultur. Verstehen sie sich als Expertinnen und Allwissende oder als Coachs und Co-Creators? Treiben oder pushen sie ihre Teams zu Veränderungen, oder erzeugen sie Sogwirkung und begleiten sie diese?

 

Bei der Antwort helfen Leitfragen, die nach dem Wozu der Führung fragen:

  • Wozu gibt es uns aus Kundensicht? Welchen Mehrwert schaffen wir als Führung für Nutzerinnen und Nutzer?
  • Wozu gibt es uns aus Unternehmenssicht, und welchen Mehrwert schaffen wir für die Organisation?
  • Wozu gibt es uns aus Teamsicht, und welchen Mehrwert schaffen wir für unsere Teams?
  • Was motiviert uns selbst?

2. Unsere Vision

 

Nun geht es um das Zielbild für die Führung: Wohin soll sich Führung entwickeln in den nächsten Jahren? Wie sieht Führung der Zukunft aus? Empfehlenswert ist es hier, mit systemischen Techniken zu arbeiten, um mit dem gesamten Führungsteam eine gemeinsame Vision zu erarbeiten – hier eignet sich hervorragend die systemische Team- oder Organisationsaufstellung. Das wirkt stärker und nachhaltiger als rein rational formulierte Aussagen.

 

Aus der Vision heraus können dann auch mittel- und kurzfristige Ziele in Form von Objective & Key Results (OKR) abgeleitet werden. Für die Moals (Mid Term Goals) etwa heißt dann die passende Frage: „Was sind die aktuellen Ziele, die uns der Vision ein Jahr näherbringen?“ Hier können Jahresziele definiert oder der Beitrag der Führung zur Unternehmensvision beschrieben werden.

 

 

3. Unsere Werte und Prinzipien

 

Werte sind Handlungsimpulse und werden durch konkrete Verhaltensweisen sichtbar gemacht. Bei der Bearbeitung dieses Felds geht es darum, zu fragen, wie typische agile Werte wie Mut, Commitment, Fokus und Respekt im Führungsteam gelebt werden und an welchen Handlungen sich diese tagtäglich zeigen – wie sich also z.B. der Wert Selbstorganisation auf die eigenen Entscheidungen auswirkt.

 

Es ist empfehlenswert, zu allen Werten und Prinzipien konkrete Handlungen zu definieren und daraus im Team Vereinbarungen zu treffen bzw. Arbeitspakete zu schnüren. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass feste Fokuszeiten vereinbart werden, in denen konzentriert ohne Unterbrechung von außen gearbeitet werden kann. Dabei ist es besonders wirksam, wenn das Führungsteam als Vorbild voranschreitet.

 

4. Unsere Führungsaufgaben

 

Die Aufgaben der Führung ändern sich im Zuge einer Agilisierung immens. Wurden vorher vorwiegend Einzelne geführt, geht es bei agiler Führung viel mehr darum, den Reifegrad von Teams zu erhöhen und die Steuerung der Teamdynamik zu bewältigen. Aufgaben werden nicht mehr verteilt, sondern so transparent dargestellt und priorisiert, dass sie selbstverantwortlich gezogen und nach den Anforderungskriterien selbstorganisiert erfüllt werden können.

 

Statt die Dinge richtig zu tun, geht es im agilen Team darum, die richtigen Dinge zu tun – als Team und als Führung. Es geht nicht darum, andere zu bewerten, sondern darum, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, damit die Teams gut arbeiten können.

 

Um die konkreten Führungsaufgaben abzustimmen und zu formulieren, klären Führungsteams gemeinsam die Rahmenbedingungen, unter denen geführt werden muss, und fragen sich, wie sie ihre Teams befähigen können und wie Orientierung geboten werden sollte. Das kann durch Visionen und Mid Term Goals, aber auch durch Ziele generell sein, die die Führung mit dem Team wählt und setzt. Hilfreich ist es auch, zu fragen, wie sich Kundenzentrierung und Selbstorganisation immer wieder fördern lassen. 

 

5. Unsere Führungsrollen

 

Hier werden Rollen beschrieben, die das Führungsteam braucht, um die Aufgaben und den Auftrag gut erfüllen zu können. Dabei geht es um hierarchische wie um agile Rollen. So wird etwa gefragt, ob das Führungsteam einen Coach braucht, der auf Führungsebene Hindernisse aus dem Weg räumt und das Team in der Performance unterstützt – und ob das eine Rolle innerhalb des Teams sein könnte oder ob hierfür eine externe Person beauftragt wird.

 

Gibt es außerdem funktionale Rollen wie einen Product Owner im Team, der die Aufgaben und Priorisierungen im Blick hat? Gibt es einen Technical Lead oder eine People Lead, also Positionen, die je nach Skalierungsansatz notwendig sind?

 

Die definierten Rollen werden stärkenorientiert verteilt. Dabei ist es wichtig, die Erwartungen vom Team und allen Beteiligten an eine Rolle transparent mit den Erwartungen derjenigen abzugleichen, die die Rolle innehaben. Denn die Rollen müssen den Betroffenen gerecht werden – sie sind kein Selbstzweck!

 

6. Performance/Ergebnisse

 

Gerade im agilen Kontext wollen Teams schnelle Ergebnisse für Kunden gewährleisten. Deshalb sind bereits in den agilen Frameworks schon Methoden zu Messungen der Performance und Ergebnisorientierungen enthalten. Scrum nutzt beispielsweise das „Burndown Chart“, auf dem der verbleibende Aufwand in Relation zur verbleibenden Zeit grafisch dargestellt wird, in Kanban gibt es die „Lead Time“, die die Zeit von der Kundenanfrage bis zur Lieferung des Ergebnisses misst.

 

Die Reviews dienen der Präsentation der Ergebnisse und dem Austausch von Feedback dazu. Auf strategischer Ebene wird durch Key Results die Umsetzung gemessen. Entscheidend dabei ist, dass das gemessen wird, was für den Kunden oder die Kundin zählt. Wie die Wertschöpfung für sie und die Skalierung des Fortschritts messbar gemacht werden kann, wird im Führungskreis besprochen. Leitfrage: Was sind für uns Fortschritte, und was muss getan werden, um diese zu erreichen?

 

7. Strukturen/Organisation

 

Kultur folgt der Struktur. Deswegen sind die Strukturen ein wesentlicher Hebel zur agilen Führungskultur. Sie entscheiden, welche Möglichkeiten die Mitarbeitenden zur Selbstorganisation haben. So brauchen agile Bereiche statt der klassischen Wasserfall-Organisation einen Aufbau, der wesentlich schnellere Entscheidungen zulässt und crossfunktionale Teams ermöglicht.

 

Sowohl die Ablauf- wie die Aufbauorganisation müssen dafür neu gedacht werden. Bleiben die klassischen Strukturen, und gibt es zusätzlich interdisziplinäre Teams für Projekte? Oder ändern wir die gesamte Struktur und bilden Kreise wie in der Holokratie? Oder skalieren wir in Squads, Tribes und Gilden wie im Spotify-Modell und schneiden die Teams nach der Wertschöpfung? Das sind Fragen, die im Führungsteam durchdacht werden sollten und zu denen es Antworten geben muss. Denn sie beeinflussen die Kultur maßgeblich – ob gewollt oder als Nebeneffekt.

 

Die Rahmensetzung der Führungskräfte nimmt schon früh Einfluss darauf, aus welchen Möglichkeiten sich das Team die eigenen bevorzugten Optionen auswählen kann. Sie berührt deshalb auch schon die Frage nach langfristiger Entwicklung und Zukunftsfähigkeit der Organisation – also typische Führungsaufgaben, die im täglichen Arbeiten auf der Mikroebene schnell vergessen werden. Das Leadership Canvas bietet hier die Chance, sich einmal gemeinsam und intensiv auf die Makroebene, also das große Ganze, zu konzentrieren.

 

8. Frameworks/Methoden

 

Für dieses agile Strukturelement kann es je nach Bereich sinnvoll sein, ein Framework zu wählen, das über mehrere Teams hinweg koordinativ eingesetzt werden kann. So lassen sich neue Silos verhindern und quervernetzte Teams bilden. Das gelingt z.B. durch skalierte Scrum-Frameworks wie Safe, Nexus oder Less oder durch Kanban, das nicht nur in einem isolierten Team, sondern in weiteren Bereichen einer Organisation – also auf Flughöhe 2 oder 3 – umgesetzt wird.

 

Alternativ dazu entscheiden die Teams selbst, welche Methode am geeignetsten ist, und nur bestimmte Events wie Plannings oder Reviews werden mit mehreren Teams zur Vernetzung gemeinsam gestaltet. Oftmals reichen sogar schon Methoden, die teamübergreifend genutzt werden, beispielsweise das Team Canvas, agile Meetingformate, Delegation Poker etc.

 

9. Wie treffen wir Entscheidungen?

 

Selbstorganisation ohne Selbstbestimmung ist wie Fahrradfahren ohne Pedale. Wenn Teams weiterhin für jede Anschaffung eines Kugelschreibers oder für jede Überstunde die Bewilligung der Chefin brauchen, ist das Thema eine Farce. Entscheidungsverantwortung gehört in agile Teams, und das geht nur, wenn Führung diese teilweise abgibt. Dazu braucht es einen klaren Rahmen und angemessene Entscheidungswege. Nicht für jede Entscheidung ist ein Konsens sinnvoll, sondern nur für entsprechend komplexe Themenstellungen. Doch auch eine einfache Widerstandsabfrage oder der konsultative Einzelentscheid müssen von der Führung mitgetragen und vorgelebt werden. Und dazu braucht es Menschen, die das Wissen mitbringen, um die neuen Wege der Entscheidungsfindung umzusetzen.

 

10. Ressourcen, die wir nutzen

 

Im vorletzten Feld des Canvas geht es um die Betrachtung der Ressourcen: Welche Quellen, Kompetenzen, Möglichkeiten, Mittel etc. sind innerhalb des Führungsteams und innerhalb der zugeordneten Teams als Ressourcen zugänglich? Und was steht von außen durch Stakeholder, Serviceteams, Sponsoren oder andere Kontakte zur Verfügung? Alle Antworten werden hier gelistet.

 

11. Risiken, die wir im Blick behalten

 

Genauso werden mögliche Risiken analysiert: Welche Gefahren, Rückschläge, Widerstände, Konflikte, Marktumstände, Disruptionen oder Ähnliches kommen – von innen und von außen betrachtet – möglicherweise auf das Führungsteam zu? Was unbedingt im Blick behalten werden sollte, wird in diesem Feld festgehalten.

 

Mithilfe des Leadership Canvas lässt sich die Führung in einer agilen Transformation neu gestalten. Das Führungsteam, das es nutzt, fungiert dabei selbst als Vorbild und zeigt sich als agiles, crossfunktionales Leadership Team. Das erzeugt Orientierung und Transparenz auf vielen Ebenen und ermöglicht es, Führungsaufgaben klar aufzudröseln, für alle verständlich zu visualisieren und somit fortlaufend zu verfolgen. Wichtig dabei ist die Lebendigkeit des Leadership Canvas: Jede Veränderung im Team oder der Ausrichtung führt zur Anpassung des Visualisierungstools.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0