Viele Führungskräfte sind geschulte Diplomaten. Sie sagen nicht, was sie denken, sondern packen es in Watte. So habe ich neulich erlebt, dass ein Zulieferer in Terminprobleme geriet. Eine schnelle Lösung war nicht in Sicht. Dennoch wurde dem Auftraggeber kommuniziert: Wir sind kurz davor, die Sache zu lösen. Und ein neuer Liefertermin nach dem anderen wurde versprochen – und gebrochen.
Ein anderer, wohl recht typischer Fall: Eine Mitarbeiterin will eine Gehaltserhöhung. Die Führungskraft ist der Meinung, dass die Leistung das nicht rechtfertigt. Dennoch beruft sie sich im Gespräch vor allem auf die ungünstige Etatlage. Schließlich soll die Mitarbeiterin nicht demotiviert, sondern bei der Stange gehalten werden.
Im Coaching gilt bei Rückmeldungen folgender Grundsatz (nach der Psychologin Ruth Cohn): Nicht alles, was wahr ist, muss man sagen. Aber alles, was man sagt, muss wahr sein. Dieselbe Haltung empfiehlt sich für Führungskräfte. Diplomatie ist eine gute Eigenschaft, aber wer sie übertreibt, rutscht ab in Heuchelei oder leere Versprechungen. Natürlich ist es kurzfristig angenehmer, einem wartenden Auftraggeber einen zeitnahen Liefertermin zu nennen, statt zu sagen: „Wir wissen noch nicht, bis wann wir liefern können.“ Natürlich ist es kurzfristig leichter, in der Gehaltsverhandlung auf die angespannte Etatlage zu verweisen, statt ehrlich zu sagen: „Im Moment rechtfertigt deine Leistung noch keine Erhöhung.“
Aber was passiert, wenn auch der nächste Liefertermin nicht eingehalten wird und der übernächste? Was passiert, wenn die Mitarbeiterin auch in den folgenden Jahren auf die angeblich schlechte Etatlage verwiesen wird, während ihre Kollegen und Kolleginnen Erhöhungen erhalten?
Der Schaden ist enorm, denn die Glaubwürdigkeit geht flöten. Und sogar, wenn die Führungskraft zu einem späteren Zeitpunkt zur Wahrheit übergeht, ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Denn die Gesprächspartnerin fühlt sich verschaukelt und wird fragen: „Das war dir doch schon früher bekannt! Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
Viele Führungskräfte protestieren im Coaching: „Aber ich kann den anderen die Wahrheit doch nicht einfach ins Gesicht sagen.“ Und ob sie das können! Nichts ist stärker als eine authentische Kommunikation. In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass Mitarbeitende und Geschäftspartner mit einer unangenehmen Wahrheit viel besser klarkommen als mit einer verbogenen Wahrheit. Zwar kommt es kurzfristig zu einer Konfrontation. Aber dann weiß das Gegenüber, woran es ist. Zum Beispiel kann der Auftraggeber seine Terminplanung auf den Lieferengpass einstellen. Oder die Mitarbeiterin kann einen Weg finden, wie sie ihre Leistung steigern und die Gehaltserhöhung doch noch bekommen kann.
Letztlich ist es ein Vertrauensbeweis, einem anderen Menschen die Wahrheit auch dann zu sagen, wenn sie für ihn unangenehm ist. Wer seine Gedanken ausspricht, statt sie zu verbiegen und zu zensieren, ist authentischer und kann damit auch wirksamer führen. Denn nur, wer die Wahrheit sagt, erzielt eine wahrhafte Wirkung
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