Führungsfaktor Einstellung: Die Macht des Menschenbildes

 

Unsere Sicht davon, wie „der Mensch“ ist, bestimmt wesentlich darüber mit, wie wir anderen Menschen begegnen. Was wir von ihnen erwarten. Ob wir ihnen vertrauen oder nicht.

 

Sehr viele Debatten unserer Zeit sind dadurch charakterisiert, dass dabei verschiedene Menschenbilder aufeinanderprallen: Sollen Straftäter strenger bestraft oder besser unterstützt werden? Ist der altmodische Ernährer das bessere Rollenmodell oder ist es der Vater mit der Babytragetasche? Macht klassische Führung ein Unternehmen erfolgreich oder sind eigenverantwortliche Teams der bessere Weg zum Erfolg?

 

Man mag es für aberwitzig halten, aber in all diesen modernen Diskussionen setzt sich der jahrhundertealte Streit zwischen zwei unterschiedlichen Sichtweisen auf den Menschen fort.

Die eine Sichtweise ist die optimistische. Geprägt wurde sie nicht zuletzt durch den Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778), der den Menschen für „von Natur aus gut“ hielt. Rousseau glaubte, dass wir im „Naturzustand“ noch mitfühlende altruistische Wesen waren und erst mit Beginn der Zivilisation, dem Aufkommen von Staaten und Hierarchien, zu zynischen Egoisten wurden. Nach Rousseau hätten wir unsere Freiheit nie in den Wind schlagen dürfen.

 

So lieferte der Philosoph die fundamentale Grundlage für eine Position, die in den folgenden Jahrhunderten von Anarchisten und Freibeutern, Rebellen und Unruhestiftern millionenfach wiederholt wurde: „Gebt uns die Freiheit, sonst laufen die Dinge schief!“

 

Die andere Sichtweise ist pessimistisch. Sie wurde besonders prominent vom Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosophen Thomas Hobbes (1588 bis 1679) vertreten. Hobbes war überzeugt: Im Naturzustand herrscht ein „Krieg eines jeden gegen jeden“, doch die Anarchie lasse sich eindämmen, wenn wir unsere Freiheit aufgeben und in die Hände eines Alleinherrschers legen.

 

So baute Hobbes die Grundlage für einen Standpunkt, der millionenfach von Ministern, Generälen, Diktatoren, Direktoren und auch Firmenchefs und Führungskräften wiederholt werden sollte: „Gebt uns die Macht, sonst laufen die Dinge schief!“

 

Ein negatives Menschenbild gilt als realistisch

 

Bis in die Gegenwart sind Hobbes und Rousseau die gedanklichen Urväter der Konservativen und Progressiven, der Realisten und Idealisten geblieben. Ihre beiden Positionen schwingen noch in den heutigen Diskussionen darüber mit, welches Führungs- und Organisationsmodell das bessere ist. Wobei die negative Sicht auf den Menschen immer noch der Mainstream ist. Sie ist das, was in unserer Denktradition als realistisch gilt, als vernünftig.

 

Die Überzeugung, dass der Mensch nur durch zivilisatorische Zügelung davon abgehalten wird, eigennützigen Impulsen zu folgen, wurde seit Hobbes tausendfach wiederholt und sitzt sehr tief. Das liegt mitunter auch daran, dass wir evolutionär bedingt sensibler für das Negative als für das Positive sind. Es hat sich für uns stärker ausgezahlt, auf potenzielle Gefahren zu achten, als locker damit umzugehen. Deswegen richtet sich auch der Fokus unserer heutigen Medien bevorzugt auf schlechte Nachrichten – die dann wiederum das schlechte Bild, das wir voneinander haben, verfestigen.

 

Wie tief das negative Menschenbild in uns sitzt, hat erst kürzlich eine Studie zweier amerikanischer Psychologen gezeigt: Die Forschenden stellten ihren Probanden verschiedene Situationen vor, in denen Menschen etwas Gutes taten. Es stellte sich heraus: Die Probanden witterten überall Egoismus. Jemand hilft einem alten Mann über die Straße? – „Macht er sicher bloß, um selbst gut rüberzukommen!“ Jemand gibt einem Obdachlosen Geld? – „Bestimmt nur,

um sein Gewissen zu beruhigen!“ Auch als die Forschenden harte Fakten über Fremde präsentierten, die Brieftaschen brav zurückgeben, und über die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung selten betrügt, wich die Mehrheit der Probanden

nicht von ihrem negativen Menschenbild ab.

 

Golem-Effekt: Wir denken uns gegenseitig ins Schlechte hinein

 

Das Düsterdenken übereinander hat handfeste Folgen. Denn vieles, was wir für wahr halten, kann allein dadurch wahr werden. Wenn man zum Beispiel vorhersagt, dass eine Bank pleitegehen wird, und genügend Menschen der Aussage Glauben schenken, dann werden sie so lange Geld von ihrem Konto abheben, bis die Bank tatsächlich pleite ist. Die Soziologie spricht hier von einer Selffulfilling Prophecy. In der Medizin begegnet uns das Phänomen als Placebo- und Nocebo-Effekt: Nimmt jemand eine wirkungslose Tablette, von der der Arzt behauptet, dass sie wirke, fühlt er sich oft gleich besser. Schluckt eine Person dagegen eine Medizin, von der sie annimmt, dass diese sie krank machen wird, stehen die Chancen gut, dass diese Person tatsächlich krank wird.

 

Eine Spielart des Placebo-Effekts ist der Pygmalion-Effekt. Darunter versteht die Psychologie das mittlerweile vielfach bestätigte Phänomen, dass eine positive Erwartung, die wir in Bezug auf andere haben, diese stärkt. Erwartungen sind mächtige Waffen. Wenn Führungskräfte beispielsweise Gutes von ihren Mitarbeitenden erwarten, dann leisten die Mitarbeitenden oft tatsächlich Besseres.

 

Das Gegenteil ist der Golem-Effekt: Menschen, von denen wenig erwartet wird, entsprechen dann auch häufig diesem Vorurteil und fallen in ihrer Leistung hinter die eigenen Möglichkeiten zurück.

 

Mein Verdacht ist: Auch unser allgemeines, gesellschaftlich eingeschliffenes Bild vom Menschen ist ein tückisch wirkendes Nocebo, das zu einem Golem-Effekt führt. Wenn wir davon ausgehen, die meisten Menschen seien eher unzuverlässig, egoistisch oder faul, dann fördern wir aufgrund dieser Ansicht gegenseitig das Schlechteste in uns zutage. Nicht zuletzt durch die Institutionen und Systeme, die wir schaffen.

 

Die Arbeitswelt steckt voller Symptome eines negativen Menschenbilds Die Disziplin der Betriebswissenschaft beispielsweise basiert voll und ganz auf einem Hobbes’schen Menschenbild. Sie betrachtet uns als von Natur aus egoistische Wesen. Genau deswegen sollen wir Führung nötig haben: Autoritäten sollen uns im Auge behalten und uns die richtigen „Impulse“ geben, damit wir besser arbeiten. Deswegen müssen häusliche Pflegekräfte in genau sieben Minuten Stützstrümpfe ausziehen. Deswegen werden Lageristen bei der Arbeit gefilmt.

Und deswegen werden Manager mit Boni dressiert.

 

Die Folgen kennen wir: Die Versuche, Menschen etwa durch Druck oder über das Lockmittel Geld zu „motivieren“, führen oft zum Gegenteil des Erwünschten. Man denke an jene CEOs, die sich einzig auf ihre Quartalsergebnisse fokussieren – und ihr Unternehmen damit in den Abgrund reißen. Oder an Mitarbeitende, die zu konkurrierendem Verhalten angestachelt werden, damit ihre Leistung steigt, die sich dann aber gegenseitig in den Rücken fallen, sodass die Teamleistung sinkt.

 

Zu den Symptomen des Misstrauens zählt auch das schiere Übermaß an Zielvorgaben, Regeln und Richtlinien, die den ganz normalen Arbeitsalltag steuern sollen, ihn aber vor allem lähmen.

 

Macht macht anfällig für ein negatives Bild vom Menschen

 

Selbst dort, wo man sich bemüht, Mitarbeitenden größere Spielräume einzuräumen, zeigt sich oft, wie schwer es ist, die Vorstellung, dass die Zusammenarbeit von Menschen ohne Kontrolle und Steuerung ins Chaos führt, zu überwinden. Schließlich wurde vielen Führungskräften in ihrer Ausbildung immer wieder die Geschichte vom selbstsüchtigen Menschen erzählt.

 

Bereits in den 1990er-Jahren fragte sich der Ökonom Robert Frank, welche Auswirkungen das Narrativ vom egoistischen Homo oeconomicus auf seine Studenten hat. Er ließ sie alle möglichen Aufgaben erledigen, bei denen ihre Großzügigkeit gemessen wurde. Das Ergebnis: Je länger die Studenten Ökonomie studiert hatten, desto egoistischer waren sie geworden. Und

je eher jemand so denkt, umso eher neigt er oder sie dazu, ein solches Verhalten auch bei anderen zu vermuten.

 

Doch nicht nur ein BWL-Studium kann Führungskräfte anfällig für ein negatives Menschenbild machen. Tatsächlich scheint auch Macht den Charakter zu korrumpieren. Zwar werden oft die freundlichsten Menschen zum Anführer von Gruppen gewählt oder ernannt. Aber sobald diese Leader an der Spitze stehen, scheint ihre Position wie ein Anästhetikum auf sie zu wirken, das

sie von anderen Menschen abgrenzt. So können Machtgefühle Forschungen zufolge einen mentalen Prozess stören, den Wissenschaftler als Spiegelung bezeichnen und der eine wichtige Rolle bei der Empathie spielt.

 

Normalerweise ist der Mensch ein durch und durch spiegelndes Wesen. Wenn jemand lacht, lachen wir ebenfalls. Wenn jemand gähnt, gähnen wir mit. Aber Mächtige spiegeln seltener. Es ist, als wären sie weniger mit anderen Menschen verbunden.

 

Studien liefern auch Hinweise darauf, dass mächtige Personen anderen weniger gut zuhören und sich seltener bemühen, sich in diese hineinzudenken. Stattdessen sind sie besonders anfällig für stereotype Urteile über andere, die ihnen wiederum die Rechtfertigung dafür liefern, dass die anderen ihrer Kontrolle und Steuerung bedürfen.

 

Ein positives Menschenbild dagegen würde bedeuten: Menschen müssen gar nicht von oben herab kontrolliert und reguliert werden, sie können sich auch ganz gut selbst organisieren. Zuversichtlich über Menschen zu denken, heißt demnach, sich die Überflüssigkeit klassischer Führungspositionen einzugestehen. Ist es da verwunderlich, dass viele Leader hartnäckig an einem pessimistischen Menschenbild festhalten?

 

Die neuere Forschung gibt einem optimistischen Menschenbild recht Was die Abkehr vom traditionell negativen Menschenbild angeht, kommt erschwerend hinzu: Wer sein Handeln, etwa sein Führungshandeln, auf ein pessimistisches Menschenbild gründet, ist immer auf der

sicheren Seite. Auch wenn sich die finsteren Erwartungen nie erfüllen, kann er oder sie behaupten, im Recht zu sein, denn, wer weiß, was noch passiert! Mit einem positiven Menschenbild dagegen muss man immer mit dem Argwohn leben, dass noch nichts schiefgelaufen ist, dass man noch nicht betrogen wurde, dass dies aber jederzeit geschehen kann.

 

Man kann sein ganzes Leben lang mit einem optimistischen Menschenbild recht haben, aber dennoch als naiv abgetan werden. Denn spricht nicht alles, was wir über die Natur des Menschen wissen, gegen diesen Optimismus?

 

Eben nicht! Seit Jahren häufen sich in den Wissenschaften die Belege dafür, dass es für unser traditionell eingeschliffenes negatives Menschenbild keine guten Gründe gibt. Nehmen wir zum Beispiel die Evolutionsbiologie: Hier deutet vieles darauf hin, dass es in der menschlichen Entwicklungsgeschichte nicht etwa zu einem Überleben derer mit den schärfsten Ellbogen kam, sondern zu einem Survival of the Friendliest. Dass also jene Individuen besonders große

Fortpflanzungschancen hatten, die hilfsbereit und kooperativ waren. Erkennbar ist das unter anderem daran, dass der moderne Mensch eine Physiognomie hat, die davon zeugt, wie wichtig es für uns ist, gegenseitig Vertrauen zu schaffen. Anders als alle anderen Tiere können wir erröten, damit Scham signalisieren und deutlich machen, dass es uns wichtig ist, was andere von uns denken. Und während andere Primaten, deren Augen komplett dunkel verfärbt sind, unnahbar gucken können wie ein Mafioso hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille, zeigt unser Augenweiß dem Gegenüber normalerweise stets an, wohin wir gerade schauen. Auch die Beweglichkeit unserer Augenbögen, die quasi mit unseren Emotionen mitschwingen, macht es uns schwer, ein Pokerface an den Tag zu legen. Ganz im Gegenteil: Wir sind wie ein offenes Buch füreinander.

 

Vergleicht man unsere Gesichtszüge mit denen des Neandertalers, dann fällt zudem auf, dass wir fast schon kindliche Züge haben. Dieses Phänomen ist auch aus der Tierwelt bekannt: Werden aus Wildtieren Haustiere gezüchtet und die am wenigsten aggressiven Exemplare ausgewählt, dann geht damit oft eine Veränderung der Physiognomie in Richtung eines kindlicheren Aussehens einher. Man könnte in Bezug auf uns daher vom Homo Puppy, dem Welpenmenschen, sprechen – der den Neandertaler (der ein viel größeres Gehirn hatte!) vielleicht gerade wegen seiner besseren sozialen Vernetzung verdrängt hat.

 

In der Archäologie finden sich ebenfalls kaum Belege dafür, dass mieses Verhalten „in unserer Natur“ liegt. Mittlerweile wurden etwa 3.000 Skelette des Homo sapiens an 400 Orten gefunden, die alt genug sind, um Auskunft über den „Naturzustand“ zu geben. Wissenschaftler, die all diese Ausgrabungen analysiert haben, fanden für die prähistorischen Zeiten, als wir in

nomadischen Jäger-Sammler-Gruppen umherzogen, keinen überzeugenden Beweis für Hobbes'sche Zustände. Erst später, mit der Sesshaftwerdung, dem Horten von Besitz und der Installierung von Machtpositionen scheint Gewalt in höherem Ausmaß Einzug in unser Leben gehalten zu haben. Doch selbst in diesen späteren, den historischen Zeiten scheinen, wie Erkenntnisse aus der Geschichtsforschung zeigen, Menschen oft weit weniger gewaltbereit gewesen zu sein, als sich dies die Machthaber gewünscht hätten. So gibt es beispielsweise eine Fülle an Belegen – von nicht abgeschossenen Musketen bis hin zu Klagen von Offizieren – dafür, dass Soldaten in verschiedenen Kriegen viel seltener auf den Feind schossen, als sie sollten.

 

Viele angebliche Belege für unsere widerwärtige Natur sind Fake News

 

Eine besonders spannende Disziplin, die unser Menschenbild lange Zeit negativ beeinflusst hat, ist auch die Psychologie. Hier machten in den 1960er- und 1970er-Jahren mehrere sozialpsychologische Experimente Furore, die die niederträchtige Natur des Menschen beweisen sollten – und dies anscheinend auch taten: Im Milgram-Experiment sollten 1961 Probanden in einer Studie anderen Stromstöße versetzen. Dabei gingen viele bis an die Grenze einer tödlichen Dosis. Im Stanford-Prison-Experiment von 1971 wurden Studienteilnehmer

in „Gefangene“ und „Wärter“ unterteilt, woraufhin Letztere nach kurzer Zeit begannen, die „Gefangenen“ schrecklich zu quälen.

 

Was erst später herauskam: Beide Forschungsleiter hatten ihre Probanden dazu angestachelt, sich so niederträchtig zu verhalten. Mehr noch: Im Stanford-Prison-Experiment war trotzdem nur ein Drittel auf die Manipulationsversuche angesprungen. Im Milgram-Experiment wiederum waren viele Teilnehmer (richtigerweise) davon überzeugt, dass die Stromstöße, die sie verabreichten, gar nicht echt waren. Und als das Gefängnisexperiment Anfang der 2000er-Jahre nochmals – ohne verzerrende Einflussfaktoren – wiederholt wurde, war das Resultat: Wärter und Gefangene gingen freundschaftlich miteinander um, sie verbrüderten sich sogar.

 

Auch viele nicht experimentelle, sozialpsychologische Beobachtungen lassen an der These, dass der Mensch von Natur aus „des Menschen Wolf“ ist, erheblich zweifeln. Während es beispielsweise im weltbekannten dystopischen Roman „Herr der Fliegen“ von Literaturnobelpreisträger William Golding – einem Buch, das bis heute im Schulunterricht gelesen wird – unter mehreren, auf einer einsamen Insel gestrandeten Schuljungen zu einer Eskalation der Gewalt kommt, lieferten einige, in den 1970er-Jahren tatsächlich auf einer unbewohnten Pazifikinsel gestrandete Schuljungen ein wahres Musterbeispiel an Kooperation. Bei Widerstandskampagnen, so ermittelte es die Soziologin Erica Chenoweths die eine riesige Datenbank über solche Bewegungen seit 1900 aufgebaut hatte, waren über 50 Prozent der friedlichen Kampagnen erfolgreich – gegenüber nur 26 Prozent der gewaltsamen. Einfach weil sich viel mehr Menschen daran beteiligten.

 

Selbst auf den in der Sozialpsychologie berüchtigten „Zuschauereffekt“ wirft eine 2011 erschienene Meta-Analyse ein völlig neues Licht. Der Zuschauereffekt besagt, dass Menschen dann, wenn auch mehrere andere Personen anwesend sind, einem Menschen in Not oft nicht zur Hilfe kommen. Die Forschenden schauten sich die 105 besten Studien aus den vergangenen 50 Jahren zu diesem Phänomen an und kamen zu zwei Ergebnissen: Ja, der Zuschauereffekt existiert wirklich. Manchmal nehmen wir an, dass wir in Notsituationen nichts tun müssen, weil auch andere die Verantwortung übernehmen könnten, weil wir Angst haben, das Verkehrte zu tun, weil wir denken, dass gar nichts los ist, oder weil wir sehen, dass auch andere nichts tun. Aber: Liegt eine lebensbedrohliche Situation vor und können die Umstehenden miteinander kommunizieren, dann führt die größere Anzahl von Zuschauern sogar zu mehr statt zu weniger Hilfe.

 

Ein negatives Menschenbild lässt sich überwinden

 

Was sollen diese Schlaglichter aus der Forschung? Nun, der kurze Streifzug lässt erahnen, dass das, was stets als unvernünftig galt – das Gute im Menschen zu sehen – durchaus vernünftig ist. Nicht missverstehen: Ich will nicht behaupten, dass wir alle uneingeschränkt gut sind. Mein Verdacht ist sogar – und auch dafür gibt es in der Forschung Indizien –, dass gerade unsere soziale Bezogenheit aufeinander dazu führt, dass wir manchmal zu schrecklichen Taten der Lage sind: Wir wollen zu einer Gruppe gehören. Es fällt uns schwer, uns gegen diese Gruppe zu stellen. Unsere angeborene Empathie ist hochgradig selektiv und richtet sich vor allem auf jene, die uns ähnlich und nahe sind, während sie andere ausklammert.

 

Vieles spricht dafür, dass wir genau deswegen auch zu Fürchterlichem in der Lage sind: weil wir es im Namen von Loyalität, Kooperation und Gruppendruck tun. Wir haben eine gute und eine schlechte Seite. Die Frage ist jedoch, welche wir stärken wollen. Wollen wir die gute Seite stärken, dann ist ein optimistisches Menschenbild die beste Voraussetzung dafür.

 

Was wir dafür tun müssen? Die neueren Erkenntnisse aus der Wissenschaft zeigen: Oft würde es schon helfen, die Fakten für sich sprechen zu lassen. Und das heißt im praktischen Führungsalltag: der von unserer gesellschaftlichen Denktradition beeinflussten persönlichen Intuition immer mal wieder bewusst zuwiderzuhandeln. Mitarbeitenden zum Beispiel Freiräume zu geben, obwohl sich zunächst alles in einem dagegen sträubt. Boni abzuschaffen, obwohl man fürchtet, dass dann niemand mehr ausreichend motiviert ist. Enge Kontrollmechanismen abzubauen – und dann zu schauen und zu analysieren: Was passiert?

 

Ein schönes Beispiel für eine Führungskraft, der das schon lange vor dem aktuellen Hype um New Work gelungen ist, ist Jean-François Zobrist. Als Zobrist 1983 neuer CEO des französischen Automobilzulieferers FAVI wurde, hatte die Firma noch eine straffe Pyramidenstruktur. Wer viel arbeitete, bekam Boni. Wer zu spät kam, musste Kürzungen in Kauf nehmen. Zobrists erste Maßnahme: Er mauerte das große Fenster zu, von dem aus das Management die Produktionsstätte überwachen konnte. Dann baute er die Stechuhr ab, ließ die Schlösser an den Lagerräumen entfernen und schaffte das Bonussystem ab. Zobrist teilte das Unternehmen in „Mini-Fabriken“ mit 25 bis 30 Mitarbeitern auf, die ihren eigenen Teamleiter wählten, direkt gegenüber ihren Kunden verantwortlich waren und alles selbst entschieden – außer sie hielten es selbst für richtig, die Geschäftsleitung ausnahmsweise einzuschalten.

 

Was klingt wie das Rezept für eine geldverschlingende Hippie-Kommune steigerte die Produktivität von FAVI enorm. Das Unternehmen wuchs von 100 auf 500 Mitarbeiter, es eroberte 50 Prozent des Marktes für Getriebegabeln, und die durchschnittliche Produktionszeit der wichtigsten Teile sank von elf Tagen auf einen Tag. Zobrists Philosophie blieb dabei immer kinderleicht: Wenn man Mitarbeiter behandelt, sie verantwortungsbewusst und zuverlässig, dann sind sie es auch.

 

 

Photo by OSPAN ALI on Unsplash

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