Emotionale Diversität in Unternehmen

 

Kürzlich bin ich auf eine Studie gestoßen, die besagt, dass der durchschnittliche US-Amerikaner nur drei Freunde hat. Das ist wenig. Doch die Zahlen sind in anderen Teilen der westlichen Welt nicht höher, und sie haben sich in den vergangenen Jahren so drastisch verschlechtert, dass Soziologen von einem Zeitalter sozialer Isolation sprechen, von einer Einsamkeitsepidemie. Obwohl wir nie stärker miteinander vernetzt, nie kommunikativer waren als zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte und mit unseren Smartphones zigmal pro Tag unsere Verbindung zur Welt checken, sind wir einsamer denn je.

 

Gleichzeitig nehmen Traurigkeit, Erschöpfung oder Burnouts zu. Die Frequenz psychischer Erkrankungen ist in den vergangenen 20 Jahren drastisch gestiegen, so die Erkenntnisse der deutschen Krankenkassen. 2018 schätzte die Deutsche Depressionshilfe die Zahl der Menschen, die an Depressionen leiden, auf 5,3 Millionen, inzwischen dürften es eher mehr geworden sein. Mehr als sechs Millionen Deutsche leiden unter Angstzuständen und Stress am Arbeitsplatz.

 

Doch im Business merkt man von all diesen negativen Emotionen wenig. Obwohl Authentizität heute ein Buzzword ist und Unternehmen gerne Arbeitsplätze versprechen, die den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen, traut sich kaum jemand, sich dort emotional ehrlich zu zeigen. Zu groß ist die Angst davor, als schwach und unproduktiv angesehen zu werden, zu groß die Furcht um den eigenen Stellenwert im Unternehmen. Am Arbeitsplatz traurig zu sein, gilt als das letzte, das ultimative Tabu.

 

Tischtennisplatten statt Traurigkeit

 

Statt emotionaler Diversität herrschen in Unternehmen Kulturen voller erzwungener Positivität und aggressivem Daueroptimismus. Moderne Arbeitsplätze, die aussehen wie Touristenressorts oder College-Campusse. Büros, in denen Kickertische stehen und Tischtennis gespielt wird oder, wie bei Google, auf Rutschen gerutscht wird. Der eigene Barista darf natürlich nicht fehlen oder zumindest die schicke Cafeteria.

 

„Humane“ Arbeitsplatzkulturen – das sind vor allem zweckoptimistische Konstrukte, die subjektiven, emotionalen Erfolg in Form von Glücklichsein, Aufgeschlossensein und ähnlichen Qualitäten honorieren und stets die Sonnenseite der Mitarbeitenden herausstellen. In der quirligen Fröhlichkeit sind es die Extravertierten, die dominieren: Die stimmgewaltigen und tatkräftigen Lautsprecher und Anführerinnen, die Gewinner, die oft als natürliche Leader angesehen werden und in Meetings, Teamarbeit und Entscheidungsprozessen energisch das

Wort führen. Die Introvertierten dagegen, so hat schon die ehemalige US-amerikanische Anwältin Susan Cain in ihrem TED-Talk und Bestseller „Quiet“ illustriert, werden diskriminiert und nicht für voll genommen. Denn eine Welt, die, so Cain, „nicht aufhören kann zu reden“, setzt Nach-innen-gekehrt-Sein und Stille oft mit Schwäche, mangelndem Tatendrang und fehlendem unternehmerischem Geist gleich.

 

Darunter leiden vor allem die stilleren Menschen selbst. Gleichzeitig gehen durch die fehlende emotionale Diversität und die verordnete positive Ausstrahlung aber auch produktive Ressourcen verloren. „Wenn meine Mitarbeitenden mich tatsächlich einmal als Privatperson erleben würden, wären sie wesentlich motivierter“, gestand mir beispielsweise einmal ein ranghoher Manager eines deutschen DAX-Konzerns. Loyalität entsteht durch Nähe, und wahre Nähe schafft, wer Gefühle zeigen kann – auch negative.

 

Soft Skills fürs System

 

Schließlich überwiegen, wenn wir ehrlich sind, auch in unserem Arbeitsalltag letztlich die Erniedrigungen, die Demütigungen, die kleinen Niederlagen, die Imperfektionen und Frustrationen, der Abschied von den vielen kleinen Ideen, die wir aufgeben mussten oder die von Kollegen und Vorgesetzten getötet wurden, oft lange bevor sie überhaupt laufen konnten. Traurigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Menschseins – auch am Arbeitsplatz. Eine wirkliche menschliche Organisation ist deshalb nicht eine, die ihre Mitarbeitenden ständig glücklich macht, sondern eine, die ihnen erlaubt, auch traurig zu sein.

 

Die Harvard-Psychologin Susan David nennt dies „emotionale Agilität“ und spricht von einer „Diversität in uns selbst“. Die Verantwortung von Unternehmen besteht für David darin, diese Bandbreite an Gefühlen nicht nur zuzulassen, sondern aktiv zu fördern. Schließlich macht jede Form von Diversität, wie Studien nahelegen, Unternehmen kreativer, innovativer und produktiver.

 

Eine Abkehr von der emotionalen Zwangspositivität hin zu Räumen für Traurigkeit, Melancholie und auch Passivität hat aber noch einen weiteren Vorteil. Denn um sich ständig an stets ändernde Rahmenbedingungen anpassen und immer wieder eine neue, amorphe Form annehmen zu können, muss das Unternehmen von morgen vor allem eins sein: weich. Und das lässt sich nicht alleine über individuelle Soft Skills erreichen. Nötig, um ein Unternehmen zukunftsfähig zu machen, ist eine grundlegende organisationale Sensibilität: Eine emotionale Offenheit, die es der Organisation als Ganzes erlaubt, Stimmungsschwankungen zu erspüren und Signale zu empfangen, lange bevor diese zu Zahlen geworden sind. Es geht darum, die eigenen Fenster zur Welt sauber zu halten, um mehr zu sehen, zu erahnen, zu erkennen – statt immer nur im Feel-good-Modus in die Sonne zu blinzeln.

 

Dichte Zeit und verstörende Stille

 

Doch wie lassen sich Räume schaffen für die bisher verdrängten Gefühle? Eine gute Basis dafür sind Gelegenheiten, bei denen sich die Menschen trotz Distanz ungewohnt nahekommen. Wie solche Momente emotionaler Intimität wirken, können wir zum Beispiel von der Performance-Künstlerin Marina Abramovi lernen. 2010 präsentierte sie im New Yorker Museum of Modern Art ihr Werk mit dem Titel „The Artist Is Present“. Und genau das war sie: einfach nur da. Fast drei Monate lang, acht Stunden am Tag, saß sie nonstop einem Besucher oder einer Besucherin gegenüber, jeweils für einige Minuten. Stumm starrte sie in die Augen des Gegenübers, erwiderte den Blick und zelebrierte jene Art von Zeit, die dicht ist anstatt schlank und effizient.

 

Solche quasi-öffentlichen Momente der Stille sind fesselnd und verstörend zugleich. Sie schaffen eine gewichtige Leere im Strudel der Zeit, die Raum für Emotionen öffnet – in vollen Fußballstadien, in denen alle gemeinsam eine Minute lang schweigen, ebenso wie im Museum oder im Büro. Dort hat dieses Konzept der unbedingten Präsenz tatsächlich schon Eingang gefunden: etwa in Form von Achtsamkeits- oder Mindfulness-Initiativen, wie sie beispielhaft das Softwareunternehmen SAP fördert, oder durch Schweigeminuten, wie sie bei Daimler in einigen Abteilungen zu Beginn jedes Meetings praktiziert werden, damit sich die Anwesenden sammeln können.

 

Ein experimentelleres Format sind sogenannte Silent Dinner. Die stillen Abendessen, wie sie in Klöstern und anderen spirituellen Orten seit Jahrhunderten an der Tagesordnung sind, sind ein wunderbares Gegengift zur digitalen Überwältigung unserer Zeit. Ich selbst nahm einmal an einem solchen Dinner in Berlin teil, veranstaltet von der Wirtschaftswoche. Die neunzig Minuten, die ich schweigend mit einer Gruppe von zwanzig deutschen Geschäftsleuten beim Essen verbrachte, war eine der merkwürdigsten Erfahrungen, die ich je hatte: Die CEOs am Tisch sagten kein Wort, aber sie waren da, voll präsent, plötzlich verletzlich, alle Masken abgefallen. Es war das erste geschäftliche Abendessen, bei dem ich jeden einzelnen Gast wirklich mochte.

 

Auszeiten von der Hierarchie

 

Man kann emotionale Intimität aber auch durch sehr laute Treffen mit vielen Masken fördern, wie es der Danone-Konzern vormacht. Als der Lebensmittelhersteller unter Leitung seines damaligen CEO Emmanuel Faber sein neues Unternehmensmanifest in Produktinitiativen umsetzen wollte, versammelte er das Managementteam sowie eine Gruppe von hundert Mitarbeitenden und bat alle, Kostüme, Hüte und Perücken, riesige Brillen oder Federboas zu tragen – für die gesamte Dauer des dreitägigen Meetings.

 

Was zunächst nur nach einem weiteren Auswuchs der Always-happy-Kultur moderner Unternehmen klingt, sorgte für einen sehr intensiven und überraschend persönlichen Austausch. Am Ende verließen alle das Treffen mit konkreten Entscheidungen und jeder Menge Enthusiasmus. Lorna Davis, die Danone- Managerin, die die Idee zu diesem unorthodoxen Meeting gehabt hatte, erklärt den Erfolg so: „Unterschätze niemals die Macht einer lächerlichen Perücke!“ Denn Perücken zersetzen Hierarchie. Das ist wichtig, denn Hierarchie blockiert Intimität in beide Richtungen – für den CEO und den Praktikanten. Perücken wie auch Masken erlauben uns, diese Barrieren zu durchbrechen und jemand anderes zu sein. Jemand, der es wagen kann, die eigenen Gefühle ins Spiel zu bringen.

 

Rituale eröffnen emotionale Räume

 

Die Freiheit zu fühlen und dies auch zu zeigen, lässt sich zudem auch mit symbolischen Handlungen eröffnen. So lässt sich organisatorische Trauer durch Zusammenkünfte institutionalisieren, die das Ende von Projekten, das Ausscheiden von Mitarbeitern oder das Scheitern von Initiativen würdigen. Solche Rituale können beim Loslassen helfen, indem sie negativen Gefühlen Raum geben. Diese zu zelebrieren, macht es leichter, neue Räume mit Bedeutung zu füllen.

 

 

Verlustverarbeitung durch Weltschmerz

 

Wer das seltsam berührend findet, hat erkannt, worauf es ankommt: Hier wird die Melancholie gefeiert. Sie ist es vor allem, für die wir in Unternehmen Platz schaffen sollten, um diese menschlicher zu machen und sensibler für die Welt. Denn Melancholie passt hervorragend in unsere Zeit voller einschneidender Veränderungen und Verluste. Indem sie eine Komfortzone schafft für die Trauer um vergangene Zeiten und die schwindende Hoffnung auf bessere, ist Melancholie der perfekte Behälter für die ambivalenten Gefühle unserer Umbruchzeiten.

 

Dabei ist dieser Weltschmerz tatsächlich hilfreicher für die Verarbeitung der aktuellen Herausforderungen als andere Mechanismen – der Zynismus etwa. Zynisch sind Menschen, die verloren haben und glauben, dass das Spiel sowieso nicht nach gerechten Regeln verläuft. Sie diskreditieren alle Lösungsversuche als wertlos, im Wissen um das letztliche Scheitern, und erniedrigen dabei sämtliche involvierten Akteure. Sie rauben ihnen ihre Autonomie und Handlungsfähigkeit. Zynismus ist destruktiv, Melancholie dagegen konstruktiv Das liegt daran, dass Melancholie resignativ und proaktiv zugleich ist. Melancholische Menschen leiden zwar an der Welt, selbst wenn sie gewinnen, weil sie um die letztliche Vergeblichkeit allen Tuns wissen. Doch dadurch, dass sie die Hoffnung – fast – aufgegeben haben, bewahren sie ihre Würde und setzen sich sinnvoll in Bezug zu Vorgängen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Schließlich ist der effektivste Weg, mit dem Verlieren zurechtzukommen, der bewusste Rückzug: Wenn wir selbst wählen, zu verlieren, wiegt der Verlust nicht mehr so schwer.

 

Aus dieser melancholischen Gestaltungsfreiheit entsteht sogar schöpferische Kraft: Denn wer sich emotional einrichten kann im Verlieren, öffnet sich immer auch für neue Impulse. So lassen sich melancholische Menschen leichter als andere vom vorgefassten Weg abbringen, aus der Komfortzone stoßen und zu neuen Quellen der Inspiration führen. Dabei ist der melancholische Blick sehr wach: Gerade, weil das große Ganze so vergeblich ist, sind die kleinen Dinge so liebenswert, in denen sich neue Lösungen finden lassen.

 

Melancholie fürs Management

 

Unternehmen sind deshalb gut beraten, ihre melancholischen Geister zu pflegen, ihnen Raum und Zeit zu geben, um so von ihren Einsichten und Ideen zu profitieren. Diese Förderung emotionaler Diversität fördert die organisationale Sensibilität ebenso wie ihre Veränderungsfähigkeit. Denn wer melancholisch ist, unternimmt nur dann etwas, wenn es wirklich etwas zu tun, etwas zu verändern gibt, nicht jedoch, wenn einzig etwas gewonnen werden soll. Das unterscheidet melancholische Menschen von Möchtegern-Gewinnern und Karrieristinnen. Statt zu schnellen Gewinnen führt ihr Handeln deshalb zu einem inneren Wachstum der Organisation: zu mehr Selbsterkenntnis, Kreativität und Innovation. Das aber sind Qualitäten, die die Vitalität und Wirksamkeit eines Unternehmens nachhaltig verbessern.

 

Und darum wird es in der Zukunft gehen, in der wir uns die unbedingte Gewinnorientierung nicht mehr werden leisten können. Wirtschaftliches Wachstum als Selbstzweck, auf Kosten der Umwelt, des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des individuellen Wohlbefindens ist bald keine Option mehr. Einfach so weitermachen, in der Hoffnung auf technologische Innovationen – auch das wird nicht reichen. Wir werden lernen müssen, zu verlieren. Melancholie wird uns dabei helfen – konkret praktiziert etwa in Form von Meditationspraktiken, stillen Retreats oder gemeinsamen Ritualen, aber auch Fastenzeiten oder anderen Formen der Einschränkung und der Fokussierung: Die bewusste Aufgabe von Ballast und die Abwehr von materiellen Reizen schärfen unsere Sinne für die Möglichkeit einer Gesellschaft nach der Diktatur der Gewinner.

 

Jeder dieser bewusst gewählten kleinen oder temporären Verluste bereitet uns auf die großen vor. Entscheidend ist, dass wir das, was bleibt, wenn alles andere wegfällt, nämlich uns selbst, schätzen – und zwar außerhalb der numerischen Kennzahlen in einer daueroptimierten Gesellschaft. Vielleicht ist ja die wichtigste berufliche Kompetenz der Zukunft nicht Agilität oder Kreativität, sondern die Gabe, sich selbst zu heilen: sich bei Bedarf mit einer Tasse Tee in eine warme Decke zu hüllen, sich romantische Komödien anzuschauen und Sanftheit und Gnade walten lassen zu können, wo wir sonst dazu neigen, mit uns selbst hart ins Gericht zu gehen. Melancholie wird dann zum schöpferischen Ausweg aus der permanenten Überforderung.

 

 

Photo by Aleksandra Sapozhnikova on Unsplash

 

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